Sophie Scholl
RAUSCH IM KLEINEN TAGEBUCH
Mai bis Dezember 1933
Dienstag, der 9. Mai 1933, ist ein festlicher Familientag bei den Scholls: »Heute war Sofies Geburtstag. Sie hat eine Mundharmonika, eine Seife, und einen hübschen Waschlappen, einen Kamm, Schokolade und einen Kuchen bekommen.« Es ist eine der raren Bemerkungen, die Inge Scholl im Jahre 1933 in ihrem Tagebuch über die jüngste Schwester macht. Sophie Scholl feiert ihren zwölften Geburtstag, immer noch Welten von der großen Schwester entfernt. Für den Bruder, der ihr im Alter ganz nah ist, hat Inge nur strengen Tadel bereit: »Hans war heute ein abscheulicher Kerl.« Geburtstage sind heilig in dieser Familie.
Das alles überragende Tagebuch-Thema im Mai 1933 ist die neue Zeit, die mit Adolf Hitler angefangen hat. Inge Scholl fühlt sich von diesem Aufbruch, der alle um sie herum erfasst, zutiefst angesprochen, mit Herz und Verstand. Sie kann gar nicht genug Worte finden, ihre Loyalität und ihre Bewunderung für Adolf Hitler auszudrücken. Am 12. Mai hält sie vor ihrer Klasse einen Vortrag über Hitler: »Die ganze Klasse war begeistert. … Bei einigen Stellen musste ich die Tränen unterdrücken. … Das ist sooo herrlich, wenn man sich so öffentlich zu einem großen Mann bekennen darf.« Am 15. Mai: »Mit Leib und Seele gehöre ich Hitler. Natürlich nach Gott.« Immer einsamer, immer isolierter erscheinen die Eltern, die diese Begeisterung nicht teilen, die aus Sicht der Kinder im Abseits verharren, unbelehrbar.
Die Sehnsucht der vergangenen Jahre, auf die die demokratischen Politiker keine Antwort fanden, hatte für die Mehrheit der Deutschen Sinn und Ziel gefunden. Es ist verblüffend, aber gar nicht so verwunderlich, wie sich die großen politisch-gesellschaftlichen Ereignisse und die Bekenntnisse und Einlassungen einflussreicher Experten – Juristen und Bischöfe, Staatsrechtler und Historiker, Musiker und Mediziner – mit den Eintragungen im Tagebuch von Inge Scholl zu einem Muster fügen.
Lässt man das erste Jahr unter der Diktatur des Nationalsozialismus, getarnt hinter der Maske der Legalität, im Rückblick vorüberziehen, sprechen Bilder, Fakten und Stimmungen eine eindeutige Sprache. Sie erzählen von einer Dynamik, die ohne Zwang, ohne Terror die große Mehrheit der Deutschen, ihre Eliten, wichtige gesellschaftliche Institutionen und Gruppen Monat für Monat mehr erfasste und einte in der Bewunderung, der Begeisterung und dem Vertrauen für Adolf Hitler und das, was er als politische Ziele nach innen und außen für Deutschland vorgab und durchsetzte. Denn neben den fortwährenden Märschen und Feiern, den Trommelwirbeln, Marschliedern und Fahnenaufzügen wurden Gesetze und Verordnungen erlassen und zügig ausgeführt. Die NSDAP setzte in den Städten und Gemeinden rigoros ihre Interessen durch, brachte ihre Gesinnungsgenossen an alle Schalthebel der Macht, um ihr Menschen- und Weltbild, ihre Vorstellungen von Gesellschaft und Zukunft und Gestaltung durchzusetzen. In Ulm wie anderswo.
Am 1. Mai 1933 hatte der politische Instinkt der braunen Machthaber wieder eine ideale Bühne geschaffen, wo die stetig ansteigende Begeisterung für den Kanzler Adolf Hitler und seine Politik massenhaft öffentlich ausgelebt und zugleich im Sinne des Nationalsozialismus kanalisiert werden konnte. Wieder verschränkten sich die Spektakel in der Metropole Berlin mit tausenden Orten im Reich. Überall im Land übertrug sich bei den Menschen das Gefühl, Teil der »Volksgemeinschaft« zu sein und mit Millionen Gleichgesinnten quer durch alle Schichten, vom Professor bis zum Arbeiter, das Beste für Deutschland anzustreben
Die Regierung Hitler okkupierte den 1. Mai, der als internationaler Tag der Arbeiterbewegung bisher keine Bedeutung in der Bevölkerung gefunden hatte, zum »Tag der nationalen Arbeit«. Er wurde arbeitsfrei, und in Ulm hatte die NSDAP – wie überall im Reich – die Inszenierung der Massenveranstaltungen penibel vorbereitet. Alle gesellschaftlichen Gruppen, von den Kirchen bis zu den Gewerkschaften, beugten sich dieser Regie freiwillig, freudig bereit mitzumachen. Am Tag danach schreibt Inge Scholl ins Tagebuch: »Es war ein großer Feiertag. Alle Schulen hatten frei. Um ¾ 7 Uhr gingen wir geschlossen ins Münster. Dann war in der Turnhalle eine Feier. Ein Lehrer hielt eine feine Rede. Dann mussten wir von ½ 9 Uhr bis ½ 12 Uhr Spalier stehen. Der Festzug war fabelhaft. Viele Mädels warfen Blumen. H. J. und S. A. bekamen die
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