Sophie Scholl
HJ-Formationen niemals als Nachfolger oder Erben der Bündischen Bewegung sahen. Für wirkliche Nationalsozialisten konnte es keine anderen Götter geben. Die Bündische Jugend war Konkurrenz und musste ausgeschaltet werden, »zerschlagen« hieß das im NS-Jargon. Eine autonome Jugendbewegung, das Ideal der dj. 1.11., war im Dritten Reich undenkbar. Die ehemaligen Bündischen, die die HJ stabilisierten, waren »nützliche Idioten«. Selbst eine eigenständige Hitlerjugend durfte es nicht geben. 1934 erklärte Joseph Goebbels, Propagandaminister, gläubiger Paladin Hitlers und fanatischer Nationalsozialist, die NS-Bewegung sei zwar »vom heißen Atem der Jugend erfüllt, die aber gehört dem Staat und muss sich einfügen«. Für den Einzelnen könne es nur »rücksichtsloses Einordnen« geben, auch wenn pathetisch die Jugend gerühmt wurde, der »das Morgen« gehöre, im Gegensatz zu den Alten und Spießern.
»Einordnung«, gläubige Bewunderung des Führers, Gewalt und Fanatismus im Dienst der nationalsozialistischen Sache waren auch Bestandteil dessen, was Hans Scholl seinen Jungen im Jungvolk einpflanzte. Die Ausschnitte aus der Zeitschrift »Wir Jungen«, die er aufbewahrt hat, sprechen eine eindeutige Sprache. Einer trägt die Überschrift »Wir wollen«: »Vor kurzem zogen hinter der alten Garde der Bewegung unsere jungen Bataillone durch das Brandenburger Tor am Führer vorbei. Das ist nicht Zufall. Nein! … Es ist unser bewusster Wille, das Vermächtnis dieser treuesten Kameraden des Führers in unseren Herzen zu verwurzeln und nicht nachzugeben. … Fanatisch werden wir das Neue bauen, dessen großes Finale wir heute nur ahnen können. Fanatisch werden wir in die Unendlichkeit der deutschen Seele und des deutschen Geistes vorwärtsstürmen. Fanatisch werden wir einst fallen, wenn unser großer Bund … es von uns fordern wird.« War das auch bündisch? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber unbezweifelbar ist es nationalsozialistische Marschrichtung und Weltanschauung. So wollte Adolf Hitler die deutsche Jugend haben.
1935 hatte sich der NS-Staat mit seinen Organisationen fest in der Gesellschaft verankert. Auch in der Hitlerjugend wurden alle Rücksichten fallengelassen; die totale Ausrichtung auf den Nationalsozialismus war gefordert, keine Erinnerung an die alten bündischen Zeiten wurde mehr geduldet. In der Zeitschrift »Deutsches Jungvolk« erschienen Aufsätze, die bündische Tendenzen und Rituale als »fremdvölkisch« und »Zersetzung des deutschen Lebensgefühls« verurteilten. Im Juli 1935 wurde – noch einmal – generell die bündische Jugend, am 1. November ausdrücklich die dj. 1.11. verboten. Verboten wurden Kohte, großkarierte Hemden zu kurzen Hosen, Lieder, Literatur und Instrumente aus dem Umkreis der dj. 1.11.
Max von Neubeck hatte trotz seiner dj. 1.11.-Vergangenheit keine Probleme damit, die neuen Befehle an seine Unter-Führer, auch an Hans Scholl, weiterzugeben. Persönliche Rivalitäten zwischen ihm und Hans Scholl um die Ausbildung der Jungvolk-Führer führten zu Reibereien. Ein Knäuel an Motiven ließ die Spannungen zwischen den beiden ansteigen. Hinweise, dass die begeisterte Mitarbeit von Hans Scholl im Jungvolk zur Jahreswende 1935/36 umschlug in Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, gibt es nicht. Es ging um die Deutungshoheit und die wollte Hans Scholl offenbar nicht allein Max von Neubeck überlassen; das hatte auch mit gekränktem Stolz zu tun. Schließlich war Hans Scholl nicht irgendwer in der Ulmer HJ-Führung. »Gehorsam und Freiheit« war das Zwillings-Ideal, an dem er seit jeher seine Jungschar ausrichtete. Aber mit dieser Formel zog er keine Grenze zum Nationalsozialismus. Beides wurde in unzähligen Hitler-Reden beschworen, in Liedern besungen.
Hans Scholl verlor nach der »Ohrfeigengeschichte« Ostern 1936 sein Amt als Fähnleinführer. Doch er konnte sich weiter in Übereinstimmung fühlen mit dem »wahren Kern« des Nationalsozialismus. Er blieb beim Jungvolk und sammelte sechs bis zehn Jungen um sich, eine kleine verschworene Gemeinschaft, darunter sein jüngerer Bruder Werner, die jedes zweite Wochenende in der Ulmer Umgebung wanderten, ihre Kohte aufschlugen, verbotene bündische Lieder sangen und verbotene Bücher lasen, zum Beispiel von Stefan Zweig. Angeregt und unterstützt wurde er in seiner Gruppen-Arbeit neuerdings von dem Kölner Ernst Reden, der seit November 1935 seinen Wehrdienst in Ulm ableistete. Reden, 1914 geboren, 1933 wie Hans Scholl
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