Sophie Scholl
Herausforderungen bis an die äußerste Grenze; der Kult um die Fahne; soldatische Haltung; sich zu opfern für die Volksgemeinschaft und dennoch Elite zu sein.
Tusk forderte einen eigenen kreativen Lebensstil. Doch seine Vorstellungen waren schillernd, mehrdeutig und mit nationalsozialistischen Ideen kompatibel. »Herrenmenschen« wollte die dj. 1.11. nicht formen, aber sich rigoros absetzen von der Masse: »Wir wollen alles besser lernen und besser können: besser singen, besser schweigen, besser schlemmen, besser fasten, grimmig arbeiten und hemmungslos faulenzen.« Wer hohe Ansprüche an sich stellte, den zog es zur dj. 1.11.
Eine neue Zeit bricht an, weg mit dem Alten: Nichts anderes predigten die Nationalsozialisten; genau so klang es in vielen Liedern der HJ, die ihrerseits aus bündischen Quellen schöpften. Der achtzehnjährige Hans Baumann komponierte 1932 auf einer Wallfahrt der katholischen Jugend ein Lied, das ab 1934 zum Standard-Repertoire von HJ und SA gehörte: »Es zittern die morschen Knochen / Der Welt vor dem roten Krieg … Denn heute hört uns Deutschland / Und morgen die ganze Welt. … Und mögen die Alten auch schelten, / So lass sie nur toben und schrei’n, / Und stemmen sich gegen uns Welten, / Wir werden doch Sieger sein. … Wir werden weiter marschieren, / Wenn alles in Scherben fällt, / Die Freiheit stand auf in Deutschland / Und morgen gehört ihr die Welt.« Hans Baumann, der 1933 Abitur machte, trat im gleichen Jahr der NSDAP bei und wurde Jungvolkführer. Seine weiteren Lieder, zu Dutzenden bis 1945 im Dienst der NS-Ideologie entstanden, sind teilweise noch heute populär.
Nach dem Januar 1933 ging ein Riss durch die Führer der Bündischen Jugend, auch bei der dj. 1.11. Fünf führende Funktionäre bündischer Gruppen plädierten im März in einer reichsweiten Erklärung dafür, sich »dem Gebot der Stunde nicht zu versagen«. Sie sahen ausreichende Gemeinsamkeiten mit dem Nationalsozialismus und einen Platz für die Bündischen innerhalb der »nationalen Erhebung«. Andere wollten eigenständig bleiben, sich nicht auf eine politische Richtung festlegen. Die neuen Herren, für die es im neuen Deutschland nur NS-Jugendorganisationen geben konnte, lösten im Laufe des Sommers 1933 die meisten Gruppen auf, beziehungsweise überführten sie in die Hitlerjugend. Viele bündische Führer sträubten sich nicht, sondern stellten ihr Können, ihre Erfahrung und ihr Engagement zur Verfügung. Sie machten – unter dem Hakenkreuz – mit Fahrten und Liedern, Marschieren und Fahnenappell weiter wie bisher. Besonders im Deutschen Jungvolk hatten die Bündischen großen Einfluss.
Der Ulmer Max von Neubeck, geboren 1914, war ein dj. 1.11.-Führer, der bündisches Jungenleben, Rituale und seine Begeisterung nahtlos in das Jungvolk bei der HJ übertrug. Er prägte und förderte Hans Scholl, als der im Oktober 1933 zum Jungvolk kam. Hans Scholl zog mit der Kohte auf Fahrt, trug die blaue Jungenschaftsbluse und kurze Hose; seine Jungvolk-Gruppe schmückte ihre Wimpel mit eigenen Kreationen. Die Bündischen verstanden sich als Männerbund; tusk bildete keine Ausnahme. Nur ganz wenige Mädchen in großen Städten hatten einen Platz bei der dj. 1.11. gefunden.
Für Hans Scholl hatten Mädchen nichts in seiner Truppe zu suchen. Aber zu Hause bei Familie Scholl gab es keine Trennung – hier die Söhne, da die Töchter. Die Geschwister waren gleichberechtigt, wenn mit den Eltern diskutiert wurde. Sie lasen, je weniger der Abstand an Jahren sich bemerkbar machte, die gleichen Bücher und sangen zusammen die gleichen Lieder. Davon berichtet Inge Scholls Tagebuch, als im August 1932 ihr Geburtstag gefeiert wurde und Bruder Hans noch beim CVJM war: »Nachher haben wir noch aus Hansens neuem Jungvolk-Buch gesungen. Da sind doch feine Lieder drin.« Inge und Sophie Scholl übernahmen ab 1933 auch die Lieder, die Hans bei seiner Jungenschaftsarbeit lernte. Sie lasen die dj. 1.11.-Zeitschrift und tusks »Heldenfibel«, aus der Hans Scholl seinen Jungen vorlas. In seinen Schwestern hatte Hans Scholl aufmerksame Zuhörerinnen, wenn er von Mutproben und Ritualen erzählte – im Gegensatz zu seinen Eltern. Und im Gegensatz zu seinen Eltern wusste er sie auf seiner Seite, als er sich in den ersten Monaten seiner Hitler- und HJ-Begeisterung zäh gegen seinen Vater behauptete, der ihn von diesem Irrweg abzubringen versuchte.
Wer genau hinhörte, wusste von Anfang an, dass die Nationalsozialisten ihre
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