Sophie Scholl
erlösenden Fetisch, zur Sinngebung – nicht erst – aber nun erst recht – im Zeichen des Hakenkreuzes.
Eines der populärsten und weit verbreiteten Lieder der bündischen »Südlegion« entsprach dem Lebensgefühl der Scholl-Geschwister in diesen Jahren:
»Schließ’ Aug und Ohr für eine Weil’ / vor dem Getös’ der Zeit. / Du heilst es nicht und hast kein Heil, / als wo Dein Herz sich weiht. // Dein Amt ist hüten harren sehn / im Tag die Ewigkeit. / Du bist schon so im Weltgescheh’n / befangen und befreit. // Die Stunde kommt, da man Dich braucht, / dann sei Du ganz bereit, / und in das Feuer, das verraucht, / wirf Dich als letztes Scheit.«
Heil und Ewigkeit, Herz und Feuer: große Worte, faszinierende Wegweiser für junge Menschen auf der Suche nach Idealen und Lebenszielen, die Bestand haben, weil sie auf Höheres verweisen. Friedrich Gundolf, der zum engen Kreis um Stefan George gehörte, hat es 1932 gedichtet. Es wurde bereits an vielen Lagerfeuern gesungen, als Adolf Hitler mit dem Januar 1933 begann, »sein deutsches Volk zu erobern«.
Aber wozu die Jungen – und die Mädchen – denn gebraucht werden, wenn die Stunde kommt und wofür das eigene Leben geopfert werden soll – das bleibt offen in diesen heroischen Zeilen. Eine Leerstelle, die die Nationalsozialisten geschickt füllten. Darum konnten sich die Ziele der Bündischen mit denen der Braunen verwischen. Der Einsatz für Adolf Hitler und für seine Partei hatte für die Scholl-Geschwister keinen Makel, diente er doch der Volksgemeinschaft. Dieser Dienst schien sinnvoll und war befriedigend.
NATIONALER SOZIALISMUS: GETEILTE BUTTERBROTE
Mai bis Oktober 1936
In der Erinnerung fällt das Urteil eindeutig aus: »Dann war meine Jungmädelführerin die Sophie Scholl. … Die Sophie war damals 15, und ich war 12. Sophie war damals sehr begeistert, sehr fanatisch für den Nationalsozialismus. Aber mit einem Schuss bündischer Jugend.« Nachdem sich Sophie Scholl 1935 als Schaftführerin der Jungmädel in Ulm-Wiblingen bewährt hatte, stieg sie, entsprechend der Hierarchie ehrenamtlicher Führerinnen im Bund Deutscher Mädel, am 21. Mai 1936, Himmelfahrt, auf zur Scharführerin und übernahm die Jungmädel-Gruppe in Ulm-Söflingen. An diese Zeit erinnert sich Eva Amann, die als Zwölfjährige zur Scholl-Gruppe gehörte, Jahrzehnte später. Und zur Charakterisierung von Sophie Scholl fügt sie drei weitere Merkmale hinzu: romantisch, idealistisch, kommunistisch.
Die neue Führerin brachte Schwung in die Jungmädelarbeit von Söflingen und erregte Aufsehen. Dabei war die Marschrichtung, die Sophie Scholl vorgab, in vollem Einklang mit dem, was die Partei der Nationalsozialisten seit ihren Anfängen predigte und wofür sie seit 1933 vor allem die Jugend zu begeistern suchte. So wie Adolf Hitler auf dem Reichsparteitag 1934 in Nürnberg, als er zu Tausenden von Jungen und Mädchen aus HJ und BDM sprach, die vor ihm aufmarschiert waren: »Wir wollen ein Volk sein, und ihr, meine Jugend, sollt dieses Volk nun werden. Wir wollen einst keine Klassen und Stände mehr sehen, und ihr dürft schon in euch diesen Klassendünkel nicht groß werden lassen.« Nicht vom Klassenkampf – wie die verachteten Kommunisten – sprachen die Nationalsozialisten; Volksgemeinschaft hieß das Ziel des neuen Deutschland. Davon ließ sich auch Sophie Scholl begeistern.
Wenn sie mit ihren Mädchen einen Ausflug machte, wurde gleich alles an Geld und Proviant eingesammelt, was die Eltern ihren Töchtern mitgegeben hatten. Denn das wollte Sophie Scholl verhindern: dass in den Pausen die einen ein dickes Wurstbrot aßen, leckere Limonade tranken und Süßigkeiten naschten, während bei anderen das Familienbudget nur Wasser und trockenes Brot erlaubte. Aus der Gemeinschaftskasse wurde für alle Sprudel gekauft. Wenn nach langem Wandern Essenspause angesagt war, wurden den Mädchen die Augen verbunden, und sie fischten sich aus dem Proviantberg etwas heraus. Die meisten Eltern, solide Söflinger Handwerker, fanden es gar nicht lustig, dass ihre Töchter mit denen teilen sollten, die sich ein Wurstbrot nicht leisten konnten. »Kommunistisch« war das in ihren Augen. Auch in der Erinnerung übernimmt Eva Amann, die im Frühjahr 1937 Sophie Scholls Nachfolgerin als Jungmädelführerin in Söflingen wurde, kritiklos diese Vokabel. Dabei war die »Volksgemeinschaft«, die Sophie Scholl mit den jungen Mädchen praktizierte, ein Pfeiler der national-sozialistischen Revolution,
Weitere Kostenlose Bücher