Sophie Scholl
und ihr Ausgangspunkt war eine konkrete Erfahrung, die der Gefreite Adolf Hitler zusammen mit Millionen anderen Männern im Ersten Weltkrieg gemacht hatte.
»In den Gräben des Westens und Ostens fand sich dieses Volk wieder zusammen, die Granaten und Minen fragten nicht danach, ob einer hoch oder niedrig geboren, ob jemand reich oder arm war, welcher Konfession und welchem Stande er angehörte, sondern hier war jene gewaltige Probe auf den Sinn und Geist der Gemeinschaft.« So schrieb 1935 Robert Ley, Führer der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront, in die nach der gewaltsamen Auflösung der Gewerkschaften im Mai 1933 alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer gezwungen wurden: eine »Volksgemeinschaft« im Kleinen, die zwanzig Millionen Deutsche umfasste. Und die braunen Machthaber handelten. Sie beseitigten Privilegien, ebneten soziale Ungleichheiten ein.
Das Gesetz, das Beamte und Pfarrer von Pfändungen ausschloss, wurde abgeschafft. Der tariflich festgelegte Urlaub für Arbeiter wurde von drei auf zwölf Tage aufgestockt, und im November 1933 wurde als Unterorganisation der Deutschen Arbeitsfront die Freizeitorganisation »Kraft durch Freude« gegründet. Adolf Hitler zu diesem Anlass: »Ich will, dass dem deutschen Arbeiter ein ausreichender Urlaub gewährt wird.« 1936 meldete die SPD-Zentrale, die vor den Nationalsozialisten nach Prag geflüchtet war, über die Stimmung im Deutschen Reich: »Die KdF wird bei fast allen Volksgenossen als eine wirklich anerkennenswerte Leistung des Nationalsozialismus gewertet.« KdF organisierte Theaterreisen, Tanz- und Sportkurse, Schiffsfahrten nach Mallorca und Kreuzfahrten in die Adria und die Ostsee, Wanderungen um den Chiemsee oder einen Besuch der Bayreuther Festspiele. Der Massentourismus begann im Zeichen des Hakenkreuzes. Auch wenn längst nicht alle Arbeiter sich eine Seefahrt leisten konnten, die Botschaft war überzeugend: Urlaubsreisen sind kein Privileg begüterter Schichten mehr.
Die Losung von der Gleichheit fand – neben der von der Freiheit – bei Jugendlichen, die an einer besseren, gerechteren Ordnung mitarbeiten wollten, eine begeisterte Aufnahme. Es war eine der Haupt-Attraktionen der Hitlerjugend, in ihr die Welt der Spießer – und damit der Klassenschranken – hinter sich zu lassen. Sophie Scholl praktizierte es, wenn sie für ihre Jungmädel-Arbeit den nationalsozialistischen Auftrag ernst nahm, den Klassendünkel und die Standesunterschiede zu beseitigen und beim gemeinsamen Picknick Volksgemeinschaft einzuüben.
Weder die Jugendlichen und nur die wenigsten Erwachsenen durchschauten, wie geschickt die Nationalsozialisten ehrenwerte Ziele als Köder auswarfen, um die Menschen zu manipulieren und sie, ohne dass es ihnen bewusst wurde, in das nationalsozialistische Unrechtssystem einzubinden und zu verstricken. Während der großen Mehrheit der Deutschen Gleichheit versprochen wurde und mehr denn je diese auch erlebten, wurden Minderheiten immer sichtbarer ausgegrenzt. Adolf Hitler machte im kleinen Kreis kein Hehl aus seiner doppelgesichtigen Politik, die langfristig angelegt war: »Innerhalb des deutschen Volkes höchste Volksgemeinschaft und Möglichkeit der Bildung für jedermann, nach außen aber absoluter Herrenstandpunkt.« Die Definition der Volksgemeinschaft war die Voraussetzung, um die »Rassenlehre« des Nationalsozialismus in blutige Taten umzusetzen: den Völkermord an Europas Juden, die Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma, Behinderten und Kranken, Homosexuellen und Menschen, die sich nicht in traditionelle Ordnungen fügten. Sie alle gehörten nicht zur »Volksgemeinschaft«, waren »außen« – Menschen und Bürger zweiter Klasse. Daran ist im Nachhinein nichts zu deuteln.
Den Zeitgenossen konnten sich diese mörderischen Querverbindungen 1936/37 nicht erschließen. Aber sie nahmen schwerwiegende Unrechtsakte wie die Ausgrenzung der Juden als Deutsche minderen Rechts durch die »Nürnberger Gesetze« nicht zuletzt deshalb schweigend hin, weil sie seit 1933 besser lebten, weil die Chancen, innerhalb der Volksgemeinschaft aufzusteigen, für die unteren sozialen Schichten tatsächlich gewachsen waren. Viele hatten das Gefühl, dass es aufwärts ging, seit die Nationalsozialisten am Ruder waren: im privaten Bereich, mit der wirtschaftlichen Lage im Innern und mit Deutschlands Rolle in der Welt. Im Herbst 1936 sank die Zahl der Arbeitslosen auf eine Million. Und vom 1. bis 16. August 1936 war die Welt zu Gast in
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