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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Greenland
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wie der Rumpf eines jeden Raumschiffes mit Flecken übersät sein – mit den Malen der schrecklichen Dinge, die in seinem Innern geschehen waren. Die ganze Straße mußte doch von einem solchen Ereignis in Mitleidenschaft gezogen worden sein.
    Es war nicht so. Die Turkey-Passage war eine Straße wie jede andere, schlammig, verrußt und öde. Ich ging zu dem Haus, stieg ohne zu zögern die Treppe empor und sah durch das Fenster im Erdgeschoß. Die dicke Scheibe war schmutzig, und drinnen brannte kein Licht. Ich konnte nur die nackten Dielen sehen. Vorhänge oder Möbel gab es keine.
    Ich klopfte gegen die Tür, doch niemand kam. Ich klopfte erneut und drehte den Türknauf. Die Tür war verschlossen.
    Ich wartete noch einen Moment, stieg dann die Stufen hinunter und betrachtete das Haus vom Gehsteig aus. Der Zeichner von der Zeitung hatte es richtig wiedergegeben: Es war nichts als ein ganz gewöhnliches Haus mit sieben Fenstern, zwei in jeder Etage und eins, durch dessen Scheibe ich ins Innere geschaut hatte, im Erdgeschoß. Die Handläufe waren rostig, und überall auf der Straße lag Papier und Unrat.
    Inzwischen waren die Leute aus der Nachbarschaft auf mich aufmerksam geworden und starrten aus Fenstern und Türen zu mir herüber. Ein Polizist schlenderte langsam auf mich zu.
    Im Verlies streckte ich meine tauben Glieder und dachte an Mama. Ich fragte mich, warum sie mich überhaupt bekommen hatte. Sie mußte doch die Möglichkeiten zur Abhilfe gekannt haben. Mir fiel außer der naheliegendsten keine andere Erklärung ein: Sie hatte mich bekommen, damit ich mich um sie kümmerte, wenn sie alt war. Außerdem – gab es da nicht auch Mütter und Töchter im gleichen Gewerbe? Alles sprach dafür, daß es so etwas gab. Hätte das Schicksal nicht seine Hand im Spiel gehabt, wäre ich von Mama aufgezogen worden, um dann ihr Gewerbe auszuüben – so sicher, wie Gänse Federn haben. Das war auch der Grund, weshalb sie mir keinen Namen gegeben hatte. Ein Mädchen ohne Namen war eben irgendein Mädchen, das jeder beliebige Mann nehmen konnte.
    Es war dumm gewesen, zu dem Haus in der Turkey-Passage zu gehen. Mama war nicht in dem Haus. Sie lebte und würde kommen, um mich zu suchen – ich konnte sie sehen, in der Luft vor mir, als ob sie Flügel und ein Gesicht hätte. Da war sie, das Gesicht mit einem Tuch verhüllt, und auf der Handfläche, die die mir entgegenstreckte. lag der Ring. »Mama!« keuchte ich. »Bist du doch endlich gekommen!« Aber wie hätte sie auch nicht kommen können? Waren sie und ihre Gefährtinnen nicht auch letztlich einem Gott geopfert worden – einem Gott der Eifersucht, der Rache oder der Gerechtigkeit? Ich war ein Produkt ihres Gewerbes, ich hätte ihren Weg einschlagen sollen und an ihrer Seite sterben sollen.
    Ich griff nach ihrer Hand, die ich nicht packen konnte, aber ich sah sie ganz deutlich. Das Fleisch zwischen den dunklen Blutflecken war grau wie Lauge.
    »Du hättest mich bei dir behalten und mich nicht so lange warten lassen sollen, Mama«, sagte ich zu ihr. Schließlich wußte ich jetzt, daß ich mein ganzes Leben lang nur gewartet hatte, um zu reifen – Futter, das für den Gott des Todes aufgezogen wurde.
    Ich hörte ein Klirren und hob meinen müden Kopf. Das Tor öffnete sich, und zwei Männer mit Fackeln traten hindurch. Einer war ein Marsianer, ein Priester.
    Wahrscheinlich derselbe Priester, der mich dieser auserwählten Gesellschaft hier zugeführt hatte. Der andere war ein Mensch in einer langen braunen Kutte.
    Ich setzte mich auf.
    Der Mann in der Kutte hob seine Fackel und sah mich an. Es war ein Mönch mit Sandalen an den Füßen und einem Seil um die Hüfte. Der Kopf war kahlgeschoren.
    »Mr. Mönch«, rief ich. »Sir, können Sie mir bitte etwas sagen?« Ich war erschrocken und bekümmert, wie schwach meine Stimme schon klang. »Ich möchte Sie etwas fragen über Gott ...«
    Der Mönch sagte auf marsianisch etwas zu dem Priester. Beide musterten mich wachsam. Der Priester hatte seine Ohren angelegt, und der Mönch betrachtete mich überrascht und besorgt. Vorsichtig trat er näher und schlug das Kreuzzeichen in die Luft.
    »Wieso ist Gott immer so hungrig?« rief ich – oder versuchte ich zu rufen.
    Der Mönch trat zu mir, beugte sich über mich und sagte etwas in Französisch zu mir. Leider verstand ich diese Sprache damals noch nicht. Er sprach in leisem, bittendem Tonfall. Ich nahm an, er wolle mich bitten, ihn nicht anzuschreien. Doch dann richtete er auf

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