Sophies Kurs
hinter einem Felsvorsprung. Drinnen hockte eine ganze Engel-Familie auf ihren Hinterläufen. Hatte man sie erstmal entdeckt, stellte man fest, daß die Höhlen überall waren. Ranken wuchsen an ihnen empor. Es gab Höhlen in jeder Felsnische, an der man vorbeikam. Einige waren groß, daß sie in ihrem Innern sogar ganze Gebäude hallen aufnehmen können, und besaßen wundervoll gewölbte Plattformen aus Holz und Blech.
Unter einem steilen Hang, an dem sich ein halbes Dutzend winzige Jungengel mit ihren kleinen gelben Fingern und Zehen in den Fels krallten, machten wir halt. Niemand kam, um die Jungen zu schützen, obwohl drei oder vier Engel mit kräftig ausgebildetem Brustkorb und weiten Schwingen über uns kreisten und ihnen Warnrufe zuschrieen. Auch meine Begleiter begannen nun zu rufen. Ein Poltern ertönte, und dann tauchte auf einem Felssims über dem Hang ein menschlicher Kopf auf.
»Benedicite, fratres, omnes!«
rief der Kopf und wuchs zu einem Körper, der gelenkig den Hang dicht an den Engeljungen vorbei herunterstieg, ohne auf eines zu treten. Trotzdem quiekten und heulten sie ängstlich.
Es war ein kleiner Mann in mittleren Jahren mit dichtem grauen Haar und buschigen schwarzen Augenbrauen, schlanken kräftigen Beinen und langen Armen. Er trug eine braune Kutte, die er zwischen den Schenkeln verknotet hatte, – und eine kleine Leiter auf den Schultern.
Dies war mein erster Eindruck von Bruder Jude. Ich hielt ihn für einen Einsiedler, und das ist er auch heute noch für mich. Er selbst hält sich für einen Missionar. Er gehört zu den Brüdern vom Leuchtenden Bogen, die einem Aufruf von Christus folgen, Sein Licht auch in fernen Ländern und Welten leuchten zu lassen. Ich war überrascht, daß er mich offenbar schon erwartete, denn er begrüßte mich auf englisch, legte mir die Hände auf die Schultern und strahlte mich an. Er hatte kaum noch Zähne im Mund und nannte mich wie alle Sophia.
Bruder Jude ergriff meine Hand. »Du fragst dich sicher, Sophia, warum ich diese Leiter trage. Ich verrate dir den Grund: um damit in den Himmel hinaufzuklettern, wenn meine Zeit gekommen ist!« Und er zeigte wieder sein zahnloses Grinsen. Sein Atem roch wie der von Mr. Crii – furchterregend.
Als die zwei Pilger seinen Segen erhalten und sich wieder zu ihrem glorreichen Unterfangen verabschiedet hatten, erklärte Bruder Jude, daß er jemandem mit Namen Therese einen Besuch abstatten wolle. »Ich werde dich ihr vorstellen«, meinte er. »Du bleibst hier,
mam'selle.
Ich werde sie herholen.«
»Ich möchte aber mit hinaufkommen«, forderte ich, was in Wirklichkeit nur bedeutete, daß ich nicht hier alleingelassen werden wollte, und packte eines der Rankengewächse. Der Hang war steil, und trotz meines geringen Gewichtes schmerzten mir bald die Hände. Auf Händen und Füßen zog ich mich nach oben, wie Bruder Jude es mir vormachte, und packte schließlich die Leiter, die er mir von oben entgegenhielt. Seine langen Arme besaßen unheimlich viel Kraft.
Die Höhle von Therese lag nur wenig höher. Tatsächlich waren es nur wenige Höhlen, die Bruder Jude aufsuchte, und einfach zu erklettern. Doch je weiter wir uns von seiner Höhle entfernten, desto weniger schien er willkommen zu sein, wie ich feststellte. Als er das erste Mal zu ihnen kam, hatten sie ihm die Knochen gebrochen, ihn niedergeschlagen, aufgehoben und wieder zu Boden geschleudert. Trotzdem blieb er bei ihnen, belohnte ihre Feindseligkeit mit einem Lächeln, humpelte nicht einmal und pries fortwährend den Herrn. Ich mußte an Mrs. Rose denken. Sie hätte Bruder Jude sicher sehr bewundert.
»Therese ist eine meiner Getreuen«, erklärte mir Bruder Jude. Bei ihr seien wir ziemlich sicher, ließ er mich wissen. Aber Therese wirkte auf mich nicht sonderlich vertrauenerweckend. Sie hockte in einer Laube aus toten Ranken und Palmblättern und nagte an einem alten Knochen. Sie trug ein Kleid, das mit eingetrockneten, verkrusteten schwarzen Blutflecken übersät war. Sie spreizte die Flügel, reckte den kantigen, abfallenden Kopf und schürzte, als sie mich hinter dem Rücken des Missionars bemerkte, die Lippen.
Ich glaube, Bruder Jude hatte erwartet, daß sie mich freundlich empfangen würde. Tatsächlich aber ignorierte sie mich, außer wenn er mich ansprach und ich ihm antwortete. Dann plusterte sie sich voller Eifersucht auf. In ihrem Herzen war Therese immer noch eine Wilde, obwohl sie sehr gut Französisch sprach. Sie kannte die
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