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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Greenland
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dann die Augenbrauen, öffnete seinen großen Mund und stieß mit dem Kopf nach mir, als habe er Hörner und wolle mich mit ihnen aufspießen. Meiner Ansicht nach wußte er, daß ich nicht Ben Rodney war. Er hielt das wohl für einen Riesenspaß - und ich lebte in der ständigen Furcht, daß er mich eines Tages verraten könnte, absichtlich oder ungewollt. Bei Engeln kann man da nie sicher sein.
    Ben Rodney hatte aufgehört zu existieren - aber manchmal im Canyon bemerkte ich den gleichen Gesichtsausdruck bei Gabrielle.
    Liebe Leser, Sie müssen sich vorstellen, wie wir Seite an Seite in meiner Höhle sitzen und uns die Bilder in Bruder Judes Buch der Heiligen anschauen. Wenn ich mich recht erinnere, trug Gabrielle einen Solar-Tropenhelm, den ihre Schwestern gestohlen hatten, und ich hatte mich in meine Federdecke gehüllt. Das Bild von St. Agnes, die über einem Feuer schwebt, gefiel Gabrielle besonders. Sie kratzte mit ihrer Kralle über die Seite.
»So-phie p' voler«,
meinte sie.
    Sie hatte schon mehrmals gesagt, daß ich fliegen könne; es war ihr üblicher Scherz. »Ich übe immer noch«, pflegte ich zu antworten, schüttelte meine Schultern und tat so, als putze ich mein Gefieder. Dann blinzelte Gabrielle träge wie eine Katze, hob die Augenbrauen und öffnete den Mund. Rauh wickelte sie mich in ihren Flügel und erstickte mich fast dabei. Sie zeterte und schimpfte mich aus. Hartnäckig bestand sie darauf, daß ich fliegen könne.
    Es war ein seltsames Domizil, in dem ich da im S. Charles Canyon gelandet war. Gewöhnlich hockte ich da, empfing meine Besucher und verbrachte den Tag mit Gesprächen über Essen und Verrücktheiten, während über unseren Köpfen wilde Flügel den orangefarbenen Himmel durchpflügten. In der Rinne unter meiner Höhle traf sich gern eine Gruppe älterer Frauen. Sie hockten da eine Stunde oder so zusammen, gruben Tausendfüßler aus dem Sand und verfütterten sie gegenseitig. Ich höre noch ihr Gemurmel, das protestierende Krächzen der Jungen, wenn sie von ihren Müttern gestriegelt wurden. Die Geräusche drangen gedämpft und verschwommen zu mir herauf – wie ein Lachen in einem Traum.
    Mein Unterricht war im Sande verlaufen. Meine Höhle hatte sich sozusagen in einen Kindergarten verwandelt. Jeden Tag zu irgendwelchen Zeiten kamen ein paar Junge zu mir und trieben andere vor sich her. Sie machten dann eine Zeitlang ein Tollhaus aus meiner Höhle und fielen über alles her wie die Katzen, die Mr. Crusoe so ärgerten. Wenn ich sie dann anschrie, setzten sie sich einen Moment lang wie eine richtige Klasse vor mich hin. Doch schon bald schlug ihre Laune plötzlich um, und sofort wurde die ganze Bande von der neuen Stimmung erfaßt. In zwei Minuten pieksten sie sich gegenseitig mit spitzen Knochenstücken, turnten jauchzend durch mein Nest und bissen sich gegenseitig in die Ohren.
    Gabrielle war eine häufige Besucherin. An manchen Tagen erwachte ich, und sie hockte mit halbausgebreiteten Schwingen, auf denen deutlich all ihre Narben zu sehen waren, wie der Todesengel selbst vor mir und starrte auf mein Gesicht herab. Manchmal kam sie und brachte mir einen Leckerbissen, eine gestohlene Birne oder eine süße junge Ratte, die sie für mich verwahrt hatte.
    Ich erinnere mich noch, daß sie eines Tages ziemlich aufgeregt war. Sie wollte nicht ihre Schwingen schließen. Obwohl ich die kräftigen Muskeln auf ihrem Rücken massierte, wollte sie sich nicht beruhigen. »Was ist los mit dir, Gabrielle?« fragte ich sie. »Du hast mein Frühstück vergessen.«
    »Les hom-m-mes, So-phie«,
summte sie.
»Revien' ...
Die Männer, sie sind zurückgekommen.« Und mit einem flatternden Flügel deutete sie nach oben.
    Mein Herz setzte einen Moment lang aus. Ich trat aus der Höhle und kletterte ein Stück die Klippe empor, bis ich die Stelle sehen konnte, die sie meinte. Gabrielle flog auf, hielt sich aber hinter mir, als ob ich sie beschützen müßte statt umgekehrt.
    »Ich sehe ihn«, sagte ich zu ihr. Es war keine Bande, sondern ein einzelner Mann, der auf einer Riesenhenne ritt. Es war der junge Maler, Signor Pontorbo. Er hatte den Pfad verlassen und befand sich in der Nähe des Klippenrandes.
    »Komm, Gabrielle, fliegen wir etwas näher.«
    Im Gegensatz zu ihrem Bruder Gaston war sie nicht immer bereit, mich zu transportieren, wenn ich sie darum bat. Doch diesmal tat sie es sofort. Sie packte meine Handgelenke und hätte mir beinahe die Arme aus den Gelenken gerissen, als sie mich die Klippe

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