Sophies Kurs
er finster.
Ich beobachtete, wie mein Wurfgeschoß langsam außer Sicht rollte. Ich mußte an Mama denken und spürte, daß mir die Tränen kamen. Doch ich beherrschte mich. Mama schlief in Frieden an einem ruhigen Ort. Für sie gab es nichts mehr zu erreichen.
»Also schön, Signor. Ich will es nicht wissen. Es ist mir ohnehin gleichgültig. Wozu brauche ich einen Vater?«
In der Ferne bemerkte ich ein Engelspaar, das über den Organ-Kakteen kreiste und Mäuse jagte. Einen Moment lang sah ich den beiden zu. »Wen interessiert es schon, daß ich keinen Vater habe? Ich bin Sophie Clare, und das ist alles. Ich bin das komische fremde Mädchen. Das die Jungen in ihrer Höhle toben läßt; das lacht, wenn Bruder Jude betet; das schreit und mit Sand wirft, wenn man sich ihr Essen schnappen will. All das bin ich, verstehen Sie, Sir? Sophie Clare. Aber Sie – Sie wollen mich nicht in Ruhe lassen, stimmt's?
Sie müssen hierherkommen und versuchen, mich nach Io zu locken. Und warum, um Himmels willen? Weil ich angeblich jemand sein soll, der ich nicht bin.« Meine Stimme wurde lauter. »Ich bin nicht sie! Ich war niemals sie! Ich sollte überhaupt nicht geboren sein!«
Ein kurzes Schweigen folgte. Er stand dort gelassen wie ein Tänzer, der auf seine Partnerin wartet. Ich konnte nur hoffen, daß er meine Worte gehört und in etwa verstanden hatte.
»Trotzdem ...« Er sah zu Boden und zog mit der Schuhspitze eine Linie in den Sand. »Sie sind es nun mal. Und Sie werden mitkommen!« sagte er bestimmt und hob die Augen. Jetzt lächelte er. »Sie wissen, daß Sie mitkommen werden. Es ist in Ihnen,
alora,
wie ein Wurm, der Sie von innen auffrißt. Wenn Sie nicht mitkommen, werde ich gehen, und Sie werden mich nie wiedersehen. Sie werden mich suchen, aber Sie werden mich niemals mehr finden.« Er stand mit hochaufgerichtetem Kopf und gespreizten Beinen vor mir. »Aber bleiben Sie doch ruhig hier,
signorina,
in Ihrem komfortablen
Loch,
nein?« In dieses Wort legte er all seine Verachtung. »Bleiben Sie nur hier und pflanzen Sie Ihr Gemüse. Bleiben Sie hier und werden Sie zu einer alten Frau.« Er trat über die Linie und kam einen Schritt näher. »Es liegt bei Ihnen. Sie können hierbleiben, aber Sie werden mich niemals vergessen. Und Sie werden niemals zur Ruhe kommen. Dieser Wurm wird bis zu Ihrem Tod an Ihrem Herzen nagen.«
»Sie sind wirklich eine Zumutung!« Ich war empört über ihn – und mich selbst. »Und ich bin ein Dummkopf.«
»Ach ja?« rief mein selbsternannter Bewacher leise. In seiner Stimme schwangen Erleichterung und Triumph. Seine Schultern entspannten sich. »Sie werden mitkommen?«
»In Ordnung«, antwortete ich ungnädig.
»Ich danke Ihnen,
signorina,
ich danke Ihnen vielmals.« Er beugte sich vor, um meine Hand zu küssen. Seine Lippen fühlten sich feucht und kühl an auf meiner Haut, und als er das Gesicht hob, sah ich, daß seine Augen vor Freude und Stolz strahlten. Ich stellte fest, daß er zum Teil auch stolz auf mich war.
Ich wollte aber nicht, daß er stolz auf mich war. »Gehen Sie jetzt. Ich möchte nicht mehr darüber sprechen.«
»Aber wir brechen sofort auf.«
Mir stockte der Atem. »Ich muß mich noch verabschieden, Sir«, erinnerte ich ihn.
»Dazu ist keine Zeit mehr«, rief er und drängte mich zum Pfad. »Wir verlassen umgehend diese Welt.« Und während ich rückwärts den Hang hinabstieg, sagte er: »Sie sind in höchster Gefahr, Miss Clare. Niemand kann sagen, wann es Sie trifft.«
»Ich wäre kaum in Gefahr, wenn es nicht Leute wie Sie gäbe«, bemerkte ich, wußte aber kaum, was ich da sagte. Es war sicher besser, Bruder Jude nicht auf Wiedersehen zu sagen. Sicher würde er mich von meinem Vorhaben abhalten wollen. Er würde Maria und Jésus anrufen und dem Bischof Bescheid geben, und danach Gaston, Thérèse und den Kleinen, und das würde alles noch schlimmer machen. Ich konnte mir jetzt schon seine mißbilligende Miene vorstellen, wenn er merkte, daß ich meinem Nest entflogen war. Ich würde ihm aus dem ersten Hafen, den wir anliefen, einen Brief schicken.
Io. Allein schon der Gedanke daran machte mich mutlos. Ich mußte mich zu der Vorstellung zwingen, daß es dort etwas Wunderbares, Herrliches gab – oder daß der junge Herr es zumindest glaubte, wenn auch nur, weil er selbst sich dafür so sehr ins Zeug legte. Aufgrund seiner Beteuerungen war ich inzwischen der Meinung, daß er mich nicht bewußt hintergehen würde, und das war mehr, als ich jemals von meinen
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