Sophies Kurs
hören, als sie schon längst außer Sicht war und ihre Einsamkeit in alle vier Himmelsrichtungen des Mars gackerte.
Der Kanal war braun und kalt. Staubpartikel wehten durch die Luft und peitschten die Haut. Ich zog meine Mütze tief in die Stirn und machte mich hinter Signor Pontorbos Rücken klein. In dieser Art der Fortbewegung hatte ich wenig Übung, und mir wurde beim Paddeln in so vielen Kleidern schnell warm. Außerdem drehte sich das Boot trotz meiner Anstrengungen immer wieder in meine Richtung. Wir waren hier weit entfernt von jeglicher Zivilisation, und es gab nur wenig Gegenverkehr auf dem Kanal: der Prahm eines Kieshändlers, und, wie ich annahm, ein Einheimischer mit einem Eidechsenpaar, das eine Reihe niedriger geschlossener Barken zog. Einmal schaute ich auf und sah in der Ferne Leute am Ufer stehen und zu uns herüberschauen – Männer mit Speeren, schlanke dunkle Männer, die uns regungslos mit den Blicken folgten, und Frauen, die zu ihren Füßen kauerten. K'mecki. Ich sagte nichts. Ich war sicher, auch Signor Pontorbo hatte sie gesehen, aber er sagte nichts dazu.
Ich fragte mich, wer das sein mochte, der uns verfolgte. Sicher Mr. Cox, der mich bestrafen wollte, weil ich im Schwarzen Brunnen nicht gestorben war.
»Waren Sie jemals in London?« fragte ich den breiten Rücken vor mir. »Vielleicht haben Sie dort meine Mutter getroffen. Sie lebte in der Turkey-Passage, im Schatten der St. Paul's Cathedral, wissen Sie.« Ich sah ihn vor mir als kleinen Jungen, der zielstrebig die Stufen zur Haustür emporstieg. »Ich wünschte, Sie hätten ihr Bild gemalt, denn das in der Zeitung war nicht gut. Obwohl ich mir die größte Mühe gebe, kann ich mir ihr Gesicht nicht in Erinnerung rufen.«
Vielleicht hatte ich auch gar nicht laut gesprochen, sondern nur geträumt, ich würde reden. Ich war sehr müde, und der Mars hatte meinen Verstand in seinen seltsamen Glanz gehüllt. Ich glaubte, das Rauschen des Windes sei das wütende Flattern von Flügeln, die uns folgten, und ich plapperte aufs Geratewohl daher, um mich abzulenken. Zumindest wußte ich, daß mein Entführer sich dazu entschlossen hatte, mich zu ignorieren, alles zu ignorieren außer der Dringlichkeit unserer Flucht. Er stieß sein Paddel ins Wasser, als sei es der Körper eines Feindes.
Wir fuhren immer weiter. Auf der einen Seite flogen schwarze Pelikane an uns vorbei und tauchten gelegentlich ins eisige Naß. Die felsigen Ufer waren mit orangefarbenen Flechten bewachsen. Wir paddelten durch ein hügeliges Gelände und weiter durch einen engen Canyon mit sehr hohen Wänden, von denen die Echos unserer Paddelgeräusche zurückprallten wie Gummibälle.
Die imaginären Flügelschläge hallten weiter durch meinen Kopf, und meine erschöpften Augen sahen plötzlich hier und dort Schatten über das Wasser huschen.
Und dann waren sie über uns, ehe ich einen Warnruf von mir geben konnte – Gaston und Hercule, und auch Gabrielle. Sie stießen aus der schimmernden Luft auf uns herab, streiften unsere Köpfe und stiegen wieder auf, um sich erneut auf uns zu stürzen.
»Di' – se't fois trois font soixante-qua-a-a-atr'!«
krächzte Gaston. Ich hörte das schwere Rauschen seiner Schwingen und roch die übelriechende Hitze seines Körpers, als er dicht über die Wasseroberfläche heranschoß. Es gab einen harten Schlag, und Signor Pontorbo stöhnte vor Schmerz und Schrecken auf. Das Kanu schwankte gefährlich. Gabrielle war an meiner Seite, mit blanken Brüsten und weitgeöffneten Armen, und ihre Schwingen peitschten das Wasser.
»Kehrt um!« rief ich und kam schwankend auf die Beine. »Es ist schon in Ordnung!
'Suis en sécurité!
Fliegt nach Hause!«
Aber sie hörten nicht auf mich. »Sso-phie!« krächzten sie grimmig. »Ssso-o-ophie!«
Nacheinander versuchten sie, mich aus dem Boot zu heben, das nun bedenklich hin- und herschwankte. Signor Pontorbo drehte sich um, schlug mit dem Paddel nach ihnen und verfluchte sie in irgendeiner fremden Sprache. Er schien nicht verletzt zu sein. Aber die Engel wichen ihm mit Leichtigkeit aus. Sie riskierten dabei, daß wir ins Wasser fielen, kämpften aber nicht gegen uns. Signor Pontorbo konnte schließlich einen Schlag auf Gastons Hüfte landen, und der Engel schrie gellend wie ein Adler und schlug vor Zorn wild mit den Flügeln.
»Paddeln,
signorina!«
rief Signor Pontorbo. »Paddeln Sie um Ihr Leben!«
Meine Beine waren inzwischen vom eindringenden Wasser durchnäßt. Ich fror erbärmlich, während wir
Weitere Kostenlose Bücher