Sophies Kurs
Wracks dunkel und vereist an uns vorübertreiben. Eines Tages bemerkte ich etwas Großes, das weit entfernt vor uns flog. Es sah anders aus als alle Schiffe, die ich je gesehen hatte. Es war braun und lang und schien sich fortzubewegen.
»Was ist das, Captain?« fragte ich.
»Gryphon«, brummte er nur. Die Griechen benutzten dafür dasselbe Wort, erklärte Bruno. Ich hatte nie geglaubt, daß es sie wirklich gab. Wenn es sich dabei wirklich um eine Kreatur handelte, dann war es das riesigste Lebewesen, das ich mir je vor Augen gekommen ist. Es hielt seinen Abstand und geriet noch vor Beendigung der Wache außer Sicht.
Während dieser Wachen auf dem Achterdeck versuchte ich dem Ächzen der
Giaconda
unter meinen Stiefeln zu lauschen. Ich konnte spüren, wie sich die grauen Planken mit jeder Drehung des Ruders spannten. Wir machten gute Fahrt. Der Teer warf Blasen und quoll aus den Fugen, während seltsame Strahlen wie kristalline Funken leise in der Takelage aufblitzten. Ich hätte am liebsten den Helm geöffnet und den wilden Salzgeruch des Vakuums tief in mich eingesogen. Manchmal stieg ich hinaus, polierte die Scheiben der Positionslaternen und füllte sie nach, wobei ich mich wegen meiner dicken Handschuhe mit den kleinen Sauerstoffkügelchen schwertat. Dann ließ ich mich eine Weile über die Reling hängen und starrte in die Leere. Wenn ich mit halbgeschlossenen Lidern angestrengt an der dunklen Schiffshaut entlangschaute, konnte ich den Aether sehen. Wie ein großer, endlos wogender Vorhang schob er sich zwischen den Sternen dahin. Dann war er plötzlich über und unter uns, schob uns voran und war schon wieder vorbei. Vorn am Bug auf der Steuerbordseite verursachte er Geräusche wie eine Million winziger Sägeblätter, während er sich hinten am Heck eher wie splitterndes Glas anhörte.
Nein – ich mogele. Natürlich konnte ich all dies nicht sehen – damals noch nicht. Ich bezweifle, ob diese Dinge mir aufgefallen wären – aber ich wünschte es mir so sehr. Ich suchte manchmal so angestrengt danach, daß mir ganz schwindlig wurde und ich plötzlich Musik in meinem Kopf spielen hörte – aber rückwärts und durcheinander.
Einmal, als mich niemand bemerkte, kroch ich, so weit ich es wagte, den Hauptmast hinauf und sicherte mich an einem Tau. Aber sofort waren drei kleine Caeruleaner bei mir und sprangen um mich herum, weil sie um ihr Territorum fürchteten. Ich blieb sitzen und streichelte sie, während ich die Sonne dabei beobachtete, wie sie ihre Petticoats aus Licht versprühte. In diesen Petticoats der Sonne weilen wir, dachte ich, schwebend in den ewigen Strömungen aus farbigem Staub, der fortwährend in Spiralen herumwirbelt – erst rosa, dann gelb, dann grün.
Ich mußte an Papa denken, an seinen endlosen Fall –dem Licht dieser Spiralen entgegen.
Goodbye, Papa.
Die Zeit verging. Die Schiffsglocken wurden geläutet, Wachen kamen und gingen. Manchmal spielte Captain Andreas nach getaner Arbeit auf einer zerdrückten Flöte, und Mr. Caspar führte dazu mitten in der Luft einen seltsamen Tanz mit merkwürdigen Bewegungen auf. Aber er war nicht immer fröhlich. Eines Abends, als die Sterne still auf uns herabschienen und die
Giaconda
sanft in der Strömung rollte, sprang er plötzlich in den Schrank, in dem das Tauwerk aufbewahrt wurde, und wollte nicht wieder hervorkommen Wir stellten ihm eine Pfanne mit Zuckerwasser hin und schwebten in den Salon zurück. Bruno versuchte den Captain zu bewegen, weiterzuspielen, doch der hatte keine Lust mehr.
Der Captain war schon betrunken. Er begann Bruno zu bearbeiten, wobei er immer wieder die gleichen Worte wiederholte. Er wollte Bruno dazu bringen, irgend etwas zu tun. Und Bruno sagte nur nein – immer wieder.
Ich beugte mich zu ihm. »Was will er denn?« »Er möchte, daß ich singe.«
»Ich würde Sie auch gern singen hören.«
»Nein, nein.« Er holte tief Luft und wedelte mit seiner feinen weißen Hand herum, als habe er sich verbrannt. Dann strich er sich über den Pferdeschwanz. Ich versuchte mir vorzustellen, wie weich und glatt er sich anfühlte. »Sie können ja singen, wenn Sie wollen.«
»Ich, Sir? Ich kann nicht singen.«
»Ihr kleiner Freund auf High Haven behauptete aber das Gegenteil.«
Also hatte er tatsächlich die Gelegenheit genutzt, um Kappi über mich auszufragen. Ich hatte es nicht bemerkt. Ich zog die Mundwinkel nach unten. Es war für mich immer noch ein merkwürdiges Gefühl, daß jemand sich so sehr für mich
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