Sophies Kurs
interessierte. Es kam mir so vor, als sei er ein Detektiv und ich sein Beschattungsobjekt. Es kam mir so vor, als sei ich diejenige unter der Maske, unter einem halben Dutzend Masken, und er sei derjenige, der sie mir abreißen wollte – eine nach der anderen.
»Da war ich noch ein Kind«, hielt ich ihm entgegen. »Ich habe nie ein richtiges Lied gesungen.«
Captain Andreas verlor das Interesse an unserer Unterhaltung. Er schwebte in eine aufrechte Position, um zu verschwinden, und nahm die Flöte, die er einfach irgendwo aufgehängt hatte. Der ganze Abend schien sich in Mißmut und Langeweile aufzulösen.
»Ach, gehen Sie nicht, Captain«, rief ich und begann gleich zu singen.
»Mr. Wisty ging zum Markt, und kaufte sich ein Pfund Kutteln«,
und das sang ich solange, bis Captain Andreas lachte und mich dann auf seiner Flöte begleitete. Ich schwöre, ich sang über eine Stunde lang – all die alten Lieder, an die ich mich noch aus dem
Anker der Hoffnung
erinnern konnte:
Barbara Allen
sang ich, und
The Turning of the Tide,
und
Cinnamon Mountain.
Dann sang Bruno
Wither I Shall Follow Thee, Pretty Little Maid
und ließ diesem Lied ein lustiges Stück in Italienisch folgen, worüber er und der Captain sehr lachten. Sie weigerten sich aber, mir zu sagen, worum es in dem Lied ging, so sehr ich auch in sie drang.
Meine Haare wurden länger, und Mrs. Caspar flocht sie mir. Selbst auf der
Unco Stratagem
hatte ich sie immer kurz geschnitten und nie einen Zopf getragen. Nun wachste ich ihn ein, bis er steif und schwarz war wie ein Kabel. Ich verbrachte so viel Zeit an Deck, daß meine Haut dunkler wurde und die Wangenknochen in meinem Tortengesicht stärker hervortraten. Inzwischen hatte ich auch Brüste bekommen, das ließ sich nicht mehr verbergen. Immerhin war ich jetzt schon siebzehn Jahre alt. Ich hatte ein Tuch um meinen Kopf gewunden und hinter dem Ohr verknüpft. Captain Andreas lachte und zog ein komisches Gesicht. »Er sagt, wir werden Ihnen als nächstes Ohrringe verpassen«, übersetzte Bruno. Er selbst hatte sich von Ohr zu Ohr einen Bart stehenlassen, den er sich von mir ebenso trimmen ließ wie seine unregelmäßigen Haarsträhnen. Unauffällig streichelte ich sie, wobei ich meine Finger unter den Kamm schob. Sein Haar fühlte sich tatsächlich so weich an, wie ich es mir immer vorgestellt hatte.
Ich sichtete eine Kaufmannsflotte, die von den Gewürz-Monden zurückkehrte, und las ihre Signale, wodurch wir erfuhren, daß es Weihnachten war. Wir feierten das Fest mit harten Datteln und getrockneten Sardinen. Dazu tranken wir zwei Flaschen starken Rotwein. Die Caspars speisten mit uns – getrocknete Larven und Maden, die sie aus Kakao-Dosen aßen. Es war eine ruhige Nacht mit geringer, aber gleichmäßiger Schwerkraft, und nach ein paar Bechern Wein verwandelten sich die Sterne, wenn man die Augen zukniff, in fallende Schneeflocken. Ich erinnerte mich, daß am Lambeth Walk die Freude über eine weiße Weihnacht immer sehr groß war.
Captain Andreas spielte auf seiner Flöte griechische Weihnachtslieder und ging dann zu seinen üblichen Gassenhauern über. Die Caspars kreischten, lachten und tanzten zu der Musik. Einer steckte seine Schnauze in die Kakaodose und schlug mit den Hinterläufen wie auf einer Trommel den Takt. Bruno schwebte auf Zehenspitzen heran, verbeugte sich und streckte mir galant die Hand entgegen. »Möchten Sie tanzen,
signorina?«
»Ich? Tanzen? Ich kann nicht tanzen.«
»Dann erlauben Sie mir, Sie darin zu unterweisen«, meinte er. Er ließ den Captain etwas Einfaches spielen, ein Kinderlied wie
Orangen und Zitronen,
und zeigte mir einen Tanz, den er Gavotte nannte – obwohl ich glaube, daß es keine war. Dann wechselte er das Tempo, und wir tanzten schneller. Ich lachte und rang nach Atem. Für mich war es ein schönes Gefühl, zu der Musik zu tanzen und sich dabei mit zwei Leuten wie eine einzige Person zu bewegen. Zum ersten Mal hatte ich nichts dagegen, daß Bruno seine Arme um mich legte und mich führte. Ich wünschte, meine Beine hätte ein langes Kleid umspielt statt meiner geflickten alten Kutte. Auch wäre es schön gewesen, wenn wir mehr Platz in dem engen Vorschiff
der Giaconda
zum Herumspringen gehabt hätten. Warum konnte wir nicht in die Sternenwelt hinauswirbeln und unseren Weg bis zum Jupiter tanzend zurücklegen?
Zu dieser Stunde hatten wir die Regenbogen-Zonen des brennenden Staubes schon hinter uns gelassen und flogen in die Asteroiden-See hinaus. Felsen und
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