Sophies Kurs
Haus gab es nichts, dem ich vertraute, keine Medizin für Bruno außer meinem Stöhnen und meinen salzigen Tränen. Wie sehr wünschte ich mir, Kappi wäre jetzt hier, der Papa immer besser gepflegt hatte als ich – oder Mrs. Rodney mit ihrer heißen Milch, mit heißem Bier oder ihren feuchten Umschlägen. Während ich den Schweiß von Brunos erhitztem, leblosem Gesicht wischte, erinnerte ich mich daran, wie echt er als Signor Pontorbo ausgesehen und was er alles unter seiner Maske verborgen hatte.
Meine Schnitte und Abschürfungen brannten wie Feuer, und unwillkürlich begann ich wieder zu beben. Ich zog mir den Stuhl heran, aus dem das Skorpion-Ding gekrochen war, denn einem anderen Möbel traute ich nicht, setzte mich auf das ruinierte Polster und wachte bei Bruno. Ein dutzend Male fuhr ich hoch, weil ich dachte, er habe aufgehört zu atmen, ein dutzend Male sank ich wieder auf meinen Sitz, weil ich sah, daß die Feder, die ich ihm vor den Mund hielt, zitterte.
»Er ist tot, Bruno«, sagte ich ernst, »aber du darfst nicht sterben. Du mußt leben.« Ich schob ihm eine Pastille zwischen die reglosen Lippen und preßte sie leicht mit den Fingern zusammen – wie ein Versprechen.
Etwa eine Stunde saß ich so, und dann fielen mir vor Erschöpfung die Augen zu. Ich döste in dem Sessel ein und träumte, daß Mrs. Rose und ich über grasgrüne Hügel spazierten, Molly Malone sangen und dabei Handglocken schwangen – bis mir klar wurde, daß all die Uhren im Haus gleichzeitig schlugen. Verwirrt und voller Furcht erwachte ich vollends.
Nichts hatte sich gerührt. Brunos Zustand war unverändert.
Die widersprüchlichsten Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich ihn dort wie eine Wachsfigur sitzen sah. Ich verachtete ihn, weil er von dem Wein getrunken hatte, ich verfluchte mich selbst, weil ich ihn dazu verleitet hatte, ich weinte um seinen stürmischen Geist, den mein Vater wie eine Kerzenflamme ausgelöscht hatte. Ich mußte an all die Stunden denken, die Bruno und ich gemeinsam auf der
Giaconda
verbrachte hatten, nur durch Staffelei und Leinwand voneinander getrennt. Jetzt sehnte ich mich nach diesen Stunden zurück. Ich dachte an all die Zeit, die wir nicht miteinander gesprochen hatten, und wollte es nicht glauben. Wie hatte ich so viele Stunden verschwenden können, anstatt sofort das höchste Glück zu kosten? Und wieso konnte ich, da ich jetzt dazu bereit war, nicht das tiefste Elend erfahren?
Die Ärzte sagen uns, daß Melancholie eine Krankheit ist, deren Ursache häufig im Alleinsein zu finden ist. Wenn eine Frau keine Familie oder Freunde mehr hat, wenn ihr erster wirklicher Freund vor ihren Augen niedergestreckt wurde, wenn sie weit weg von zu Hause und sich kaum bewußt ist, welchem Ort auf welcher Welt sie diese Bezeichnung zukommen lassen soll, wenn alles um sie herum Verrat und Tod ist, dann ist sie tatsächlich einsam und verlassen und wünscht sich, die
kiiri
würden kommen und ihr Herz holen. Ich hatte mein eigenes Leben gerettet, aber was war ein Leben voller Einsamkeit?
Ich warf mich nach vorn und umschlang Bruno fester als einen schwankenden Mast, stärker, als ich mich je an Gaston geklammert hatte, wenn er mich in den Marshimmel hinauftrug. Dann glitt ich zu Boden und sank zu seinen Füßen zusammen, legte meinen Kopf in seinen Schoß und weinte. Ich flüsterte ihm zu, der Weg sei nun frei und ich sei bereit, seinen Heiratsantrag anzunehmen; danach weinte ich wieder.
Bruno saß unbewegt da, eine Unperson – ausgelöscht. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich Tränen genug hatte, um mein Leid aus mir herauszuspülen.
Plötzlich schlug etwas gegen meine Schulter und fiel mit einem leisen Geräusch auf den Teppich.
Es war der Fuß des zerbrochenen Glases. Brunos Finger hatten sich eine Spur weit geöffnet, und der Fuß war auf mich gefallen. Im nächsten Moment fiel auch seine Hand auf mich, unbeholfen, bebend – wie eine ungestüme Liebkosung.
»Bruno, sei vorsichtig!« rief ich. »Du schlägst mich gleich nieder.«
In seinen Augen schimmerte wieder langsam die Intelligenz des Lebens auf, das an den Küsten entfernter Welten hindämmerte. Zwei große Tränen rollten ihm die Wangen herunter. Er lebte, und seine Lippen sogen den Atem ein.
Liebe Leser, ich denke, Sie sind die ganze Zeit mit mir sehr geduldig gewesen, und das war eine ganz schön lange Zeit, angefüllt mit Nebensächlichkeiten, Abschweifungen und unendlich vielen Einzelheiten über unwichtige Dinge, die Sie
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