Sophies Kurs
Toten.«
Er versperrte mir mit dem Besen den Weg. Ich schaute auf ihn hinab. Ich haßte plötzlich seinen schrecklichen Hut, den ständigen Geruch nach kalten Zigarrenstummeln und alten Orangenschalen. Mir wurde schlagartig klar, wie sehr ich ihm über den Kopf gewachsen war, ohne es zu bemerken.
Aber am meisten haßte ich ihn dafür, daß er Bescheid wußte. Papa hatte es ihm erzählt, was immer es auch war, und Kappi hatte es mir ebenfalls vorenthalten.
»Er schläft. Du darfst ihn nicht aufwecken.« Damit sprang ich über seinen Besen und eilte davon, ohne mich noch einmal umzuschauen. Meine Pantinen klapperten über die Fußgängerbrücke und die Half Moon Street hinunter.
Ich lief an den Docks entlang und schaute hierhin, dorthin, suchte überall. Wo waren die Masten aus goldenem Malzzucker? Nirgends! Die
Unco Stratagem
war nirgends zu sehen. Wieso? Mr. Cox hatte sich offenbar durchgesetzt und schließlich doch noch einen Liegeplatz für das Schiff im Prinz-Edward-Dock gefunden. Ich lief weiter, hatte nur einen Gedanken im Kopf: Ich mußte diesen mysteriösen Gesandten finden und darauf beharren, daß er mir alles, was er wußte, erzählte, und wenn er mich dafür in Eisen legte.
Im Prinz-Edward-Dock herrschte reger Betrieb: überall Matrosen, die Kommandos riefen, Heerscharen von Passagieren, die einander grüßten und begrüßt wurden, Träger mit Karren, auf denen sich Gepäckstücke türmten. Ich hastete durch diese Betriebsamkeit, eilte das ganze Dock entlang. Die Landestege schienen sich unendlich weit in den Raum zu dehnen. Grimmiggrau ragten die hohen Schiffsleiber über mir auf, hingen starr und in den merkwürdigsten Winkeln an ihren Haken. Ich verlor mich in einem Wald von kahlen Masten, die nackt und dunkel wie die Äste erfrorener Bäume vor mir schwankten und mich in den schwarzen Golfstrom der Sterne dahinter hinauszuwinken schienen. Mir brach der kalte Schweiß aus. Ich schluckte und schmeckte die aufkeimende Übelkeit.
Hinter mir – war das ein Ruf? Hatte da jemand nach mir gerufen? War es Papa? Die Schiffe zu allen Seiten schienen sich zu vervielfältigen. Ich keuchte laut auf. Die Schiffsrümpfe rückten zusammen und versuchten mich zu erdrücken. Ich achtete nicht mehr darauf, wohin ich trat, und stolperte über eine der gigantischen Ketten, die vom Kai in die Höhe führten, mit Gliedern so dick und groß wie die Sprossen einer Leiter zu einem schimmernden Vorschiff.
Da – dort war sie endlich! Das mußte sie sein, mit dem glänzenden Firnis auf ihren Planken und den Samtvorhängen an den Bullaugen!
Ohne weiter darüber nachzudenken, kletterte ich an der Kette nach oben. Ich spürte, wie mein Gewicht sich verringerte, wie ich die Lufthülle hinter mir ließ, als würde ich einen Umhang abstreifen.
Ich fiel fast auf das Deck der gelben Yacht. Mein Herz hämmerte, und ich begann zu würgen. Ich mußte sofort den Weg nach unten finden. Vor mir war eine Luke. Ich schlüpfte hinein.
Im Schiffsinnern war es dunkel. Ich wartete regungslos und lauschte. Nichts rührte sich. Welchen Weg sollte ich einschlagen? Ich konnte mich nicht entschließen. Ich tat ein paar Schritte und ging denselben Weg zurück. Die Dunkelheit hielt mich umklammert wie eine Faust, und mich verließ all mein Mut.
Verstecken! Ich mußte mich verstecken. Voller Panik sprang ich wieder durch die Luke nach draußen an Deck. Mein Blick fiel auf die mit Planen abgedeckten Rettungsboote. Ich lief zu einem hinüber, zwängte mich unter der Plane hinein und kniete dort, am ganzen Körper bebend. Mir war schwindlig, und meine Ohren schmerzten. Ich fühlte, wie mir schlecht wurde, und übergab mich im nächsten Augenblick in eine Ecke des Bootes. Danach kroch ich zum nächsten Sitz und rollte mich darauf zusammen. Ich zitterte am ganzen Körper. Mein tausendarmiger Gott kehrte zurück und nahm Besitz von mir.
In diesem Moment wußte ich, daß ich nur ein Kind war, und ein sehr dummes dazu. Ich hatte Angst vor dem Schiff, vor den Matrosen, vor Mr. Cox. Ich hatte Angst, daß Papa aufwachen und hinter mir her sein würde – und hatte Angst, daß er nicht aufwachen und nicht hinter mir her sein würde. Ich lag dort in dem Rettungsboot und zitterte. Mein Kopf dröhnte wie unter dem Hammer eines Steinmetzen. Ich war mir sicher, daß ich sterben würde.
Schließlich wurde ich ohnmächtig und lag – ich weiß nicht, wie lange – ohne Besinnung.
Dabei träumte ich von einem Wesen, dessen Haut wie ein brauner Teppich war,
Weitere Kostenlose Bücher