Sophies Kurs
aufpassen.«
Wie Damen von nobler Herkunft winkten sie ihre Begleiter heran und bildeten eine Schutzmauer um mich herum. Eine Sekunde lang glaubte ich, Mr. Cox würde einschreiten, aber er ließ uns ziehen. Ich drehte mich noch einmal um und sah, wie er unseren Abmarsch beobachtete. Sein altmodischer Hut schwebte wie der spitze Kopf eines übergroßen Insekts unter der schwachen Laterne.
Ich wünschte, sie hätten solange gewartet, bis er mir etwas über meinen Ring erzählt hätte. Trotzdem war ich froh, nach Hause zu gehen, erleichtert, daß jemand beschlossen hatte, mich zu begleiten. Tatsächlich hatten die Frauen mich beschützt – wenn auch nur vor meiner eigenen Dummheit. Ich war erstaunt, daß sie mich kannten, denn ich hatte noch nie mit einer von ihnen gesprochen, kannte auch keine von ihnen außer Rita. Sie kannte jeder. Sie alle aber kannten mich und wußten, wo ich wohnte. Sie fragten mich, ob der Mann ›einen Finger an mich gelegt habe‹, oder redeten ähnlich unverständliches Zeug. Um ehrlich zu sein, verstand ich kaum, was sie meinten, und antwortete ihnen knapp und einsilbig.
Zu Hause in der stillen Hütte sank ich sofort ins Bett, konnte aber nicht schlafen. All meine Gedanken drehten sich um Mr. Cox. Wer war dieser stolze Gentleman mit seiner altmodischen Perücke, der Schnupftabakdose aus Horn, dem eisernen Kinn? Ein vollkommen Fremder von einer weit entfernten Welt – und doch kannte er meine Mama. Warum hatte er angedeutet, sie sei nicht auf der
Hippolyta
gewesen? Offensichtlich hatte er mich mit jemand verwechselt.
Nicht zum ersten Mal glaubte ich, Mama über meinem Bett schweben zu sehen, und ich konnte den Luftzug ihrer Flügel auf meiner feuchten Stirn spüren.
Am nächsten Tag erzählte ich Kappi von meinem Abenteuer. Er war überzeugt, daß alles nur ein fürchterliches Mißverständnis gewesen sei. Ich solle den Frauen dankbar sein, daß sie mich sicher nach Hause gebracht hatten.
Ich sah sie wieder vor mir mit ihren engen Röcken und den harten Gesichtern. »Warum hat er gesagt, sie seien verabscheuenswürdig?« fragte ich.
Kappi verfärbte sich lavendelblau. »Sie nehmen Geld für etwas, das zur Liebe gehört. Den Mann reinzuwaschen, der sich einmal mit einer von ihnen niedergelegt hat, ist niemals mehr möglich.«
Ich war in höchstem Maße erschreckt. Kappi tätschelte mir tröstend die Hand. »Das ist aber nichts, mit der du Mr. Farthing beunruhigen solltest«, riet er mir.
Doch ich war zu neugierig und überfiel Papa damit, als er am Morgen heimkam. Er hatte kaum die Stube betreten, da erzählte ich ihm, ich hätte einen Mann getroffen, der Mama kannte.
Papa stützte sich auf den Tisch, an dem ich saß. Seine blutunterlaufenen Augen starrten mich an, als sähen sie mich nur aus weiter Ferne. »Wovon redest du eigentlich, Mädchen?«
Ich streckte die Hand aus und packte ihn am Ärmel. Unseren Streit von vergangenem Abend hatte ich völlig vergessen. »Papa, er hat Mama gekannt. Hör zu, der Mann hat gesagt, sie war nicht auf dem Schiff.«
Eigentlich hatte ich sagen wollen: Vielleicht ist sie nicht tot. Aber schon jetzt hatte ich mich viel zu weit vorgewagt.
»Halt den Mund, Kind!« knurrte Papa und umklammerte ihr Bild auf seinem Arm. »Deine Mutter ist ein Engel«, klagte er.
»Er sagte nein.«
Papa schwor einen Eid darauf und holte gegen mich aus. Ich fuhr zurück, daß die Stuhlbeine laut über den Dielenfußboden scharrten. Meine Hand sank auf den Schoß, und ich spürte den Ring in meiner Kitteltasche. Schlagartig wurde mir klar, was ich immer schon vermutet hatte: Der Ring gehörte Mama.
Aus gutem Grund sagte ich ihm nicht, daß Mr. Cox sich den Ring angeschaut hatte, wechselte aber nicht das Thema. »Wer ist der Mann, Papa? War er ein Freund von Mama?«
Papa zeigte drohend mit dem Finger auf mich. Seine Hand bebte. »Bleib weg von dem Mann!«
Mir stiegen Tränen in die Augen, als ob sein Schlag mich wirklich getroffen hätte. »Ich möchte doch nur mit ihm sprechen.«
Sie müssen wissen, ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie ich das jemals bewerkstelligen sollte. Er war ein edler Herr von Rang und Namen. Noch nie zuvor hatte ich mit jemand wie ihm gesprochen. Außerdem hatte er mir geraten, ihn nicht mehr zu behelligen. Ich wußte also nicht mal, wie er beim nächsten Mal reagieren würde.
Papa sank in seinen Sessel. »Was ist mit meinem Tee?« Er nahm den Teetopf und kämpfte aufgebracht mit dem Deckel. »Kannst du nicht mal richtig Tee
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