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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Greenland
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sahen. Sie hatten nie Geld. »Gott möge es Ihnen vergelten, Mum«, sagte er an jenem Abend, als er sie an unserem Tisch Platz nehmen ließ. Ich redete mit ihm beim Abendessen einen einzigen Satz, fragte ihn nur, ob er Mrs. Halshaw kenne. Er kannte sie nicht. Ich brachte kein weiteres Wort heraus, konnte nur dasitzen und seinen wundervollen Schnauzbart anstarren. Er war der schneidigste Mann, den ich je gesehen hatte.
    Ich weiß noch genau, wie er seinen epischen Gang über das Seil begann. Die ersten drei Schritte lief er und bewegte dabei die ausgestreckten Arme in einem langsamen, rhythmischen Flattern. Dann blieb er stehen und balancierte sich aus, ein Knie hinter das andere gesetzt und die Hüften uns zugewandt.
    Seine Hose war sehr eng. Und Gertie schaute hin, wenn sie auch vorgab, es nicht zu tun. Grob stieß sie mich an. »Wie gefällt dir die Aussicht, Sophie?« fragte sie, und die ganze Bande prustete vor Lachen.
    Ich tat so, als hätte ich ihre Worte nicht gehört, aber mir stieg die Röte in die Wangen. Abigail Cook legte uns die Hände auf die Schultern und jubelte: »Jetzt geht er weiter!«
    Mr. Spivey hatte die halbe Strecke hinter sich gebracht. Vor und hinter ihm stieg das Seil schräg an. Er wackelte und begann stärker zu schwanken. Die Leute hielten den Atem an, und einer lachte. »Gleich fällt er runter!« prophezeite Dan Corby. Aber nichts da! Mr. Spivey sprang auf und ab, hüpfte auf dem Seil herum und vollführte ein kleines Tänzchen. Die Jungs klatschen im Takt laut Beifall und pfiffen durch die Finger. Staunend drängten wir uns aneinander und starrten nach oben.
    Die restliche Strecke überwand Mr. Spivey in einem kleinen Sprint. Für ihn war das Ganze ein Kinderspiel gewesen. Die Zuschauer jubelten und pfiffen lauter als zur Guy Fawkes-Nacht. Mr. Spivey drehte sich an unserem Schlafzimmerfenster um, winkte und schwenkte seinen großen Hut, ehe er sich ins Zimmer duckte. Ein Schwarm Fledermäuse flatterten von der nahen Kirche über die Hausdächer hinweg, offensichtlich aufgeschreckt von dem hellen Feuerschein.
    Ich schaute auf und sah den Mond zwischen den Schornsteinen zu uns herunterspähen, als wolle er wissen, was dort unten vorging. Auf seiner Nachthälfte war das Lichtermeer einer Stadt zu erkennen – wie der schwache Schein von silbrigschimmerndem Tau. Ich fragte mich, ob das Crisium sein könnte. Ich sah wieder die vereisten Fenster vor mir, die in langen Linien die schwarzen Wände der Häuser durchbrachen. Mir wurde bewußt, daß ich lange Zeit nicht mehr an Mama oder an Mr. Cox gedacht hatte. Vielleicht war er inzwischen wieder zu Hause. Ich mußte sofort einen Brief an ihn aufsetzen. Ich durfte keine Zeit mehr verschwenden.
    Der arme Mr. Spivey starb im nächsten Frühjahr irgendwo im Westen des Landes: Er verlor den Halt, als er versuchte, eine Schubkarre auf dem Seil über eine Schlucht zu schieben. Der Zirkus und der Walk sammelten und spendierten ihm ein richtiges Begräbnis. Den Trauerzug führte ein Gentleman mit schwarzen Handschuhen an. Er schritt von Straße zu Straße, und vor jeder Station auf dem Lebensweg von Mr. Spivey verbeugte er sich: vor seinem Vaterhaus, vor der Schule, an den Orten, an denen er seine ersten Balancekunststücke vorgeführt hatte.
    Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem man Jack Spivey begrub. Es war der Tag, an dem Abigail Cook uns aufgeregt mitteilte, daß ein Schoner von seiner Fahrt zu den Sternen heimgekehrt sei. »Die Leute sagen, er sei überall gewesen, draußen in der Tiefe.« Und als wir hingingen, um uns das Schiff anzusehen, stellten wir fest, daß es meinen Namen trug.
     

KAPITEL VIII
Verschiedene Wohltäter
    Ich nahm einen neuen Bogen Papier aus meinem Schreibtisch und tauchte meine Feder ein. Ich schrieb weder Adresse noch Datum, sondern begann sofort:
    Lieber Papa,
    ich lebe noch, und sogar recht gut, sollte ich sagen. Leider hatte ich letzte Woche eine Erkältung, die ich mir von den Kindern in dem Haus, in dem ich wohne, geholt habe. Ich hoffe, Dir geht es den Umständen entsprechend gut. Mir tut es leid, daß Du nun so ganz allein bist. Aber ich weiß, daß Kappi Dir hilft. Ich bin sicher, daß auch Mrs. Stropes und Mrs. O'Riley gern helfen würden, wenn Du es ihnen nur gestatten würdest.
    Ich kaute auf dem oberen Ende meiner Feder herum. Eigentlich war ich mir da gar nicht so sicher. Die beiden Frauen, unsere Nachbarinnen auf dem Dock, waren nie nett zu mir gewesen, obwohl sie sich gegenseitig und auch anderen

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