Sophies Kurs
Mrs. Rodney voller Abscheu, als ich den Tee mit dem Wasser aufgoß, in dem ich zuvor die Kartoffeln gekocht hatte. Ihre Geduld war ziemlich begrenzt, und ihr Handrücken ziemlich hart. »Geh nach draußen spielen, du dummes Gör.«
Draußen traf ich Johnny und seine Freunde, die ›Himmel und Hölle‹ sprangen. Gertie machte auch mit, denn das konnte sie gut. Sie konnten nicht fassen, daß ich das Spiel nicht kannte. »Springt ihr denn auf High Haven nicht ›Himmel und Hölle‹?« riefen sie. Ich war sicher, Benny Stropes und all die anderen kannten das Spiel, doch nie im Leben hätten sie mich zum Mitmachen aufgefordert. Laut erklärte Gertie, wenn sie es spielen könne, könnte ich es auch. So spielten wir denn ›Himmel und Hölle‹, und Verstecken, und Cricket –mit drei krummen Ästen gegen die Rückwand des Lebensmittelladens. An manchen Tagen schaute ich gelegentlich nach oben und sah High Haven im Westen aufblinken wie eine Schneeflocke aus Metall. Ich spürte dann ein leises Schuldgefühl an meinem treulosen Herzen nagen. Da gab es noch einen Brief, der darauf wartete, geschrieben zu werden – den ich aber nie würde schreiben können. Captain Allardyce, der schon längst wieder abgereist war, hatte mir versprochen, auf dem Außenpier eine Nachricht für die Schiffe zu hinterlassen, die nach High Haven gingen, um Papa davon zu unterrichten, daß ich lebte und wohlauf war, ohne ihm aber zu verraten, wo ich mich befand. Das mußte ihm genügen.
Was Mr. Cox anging, hatte es mit dem Brief an ihn keine Eile. Er würde auf Jahre hinaus nicht nach Hause kommen. Wenn ich über den Markt huschte, winkten die Händler mich manchmal heran und warfen mir, ohne Geld dafür zu verlangen, einen fleckig gewordenen Apfel zu. »Wo ist denn dein feiner Herr, kleine Sophie?« sagten sie dann. »Wann kommt er denn, um dich auf seiner Yacht zu entführen?«
Ich dachte an die Morgan-Jungs und reckte den Kopf. Sie wären sicher überrascht festzustellen, daß jedermann in London inzwischen meinen Namen kannte.
Wie ich schon bemerkte, geschah es an einem Oktoberabend, daß ein Mann auf einem Seil die Straße von einer zur anderen Seite überquerte. Er war ein Einheimischer, dieser Jack Spivey, und trotzdem kannte man ihn von Stamford Hill bis Battersea, von Exeter bis Edinburgh – wo immer der Zirkus auch gastierte. Wohl der ganze Lambeth hatte sich versammelt, um ihn zu sehen. »Kommt, kommt alle heraus aus euren Häusern«, rief der Mann, griff sich einen brennenden Ast aus dem Feuer und schwenkte ihn durch die Luft. Johnnie, Gertie und ich standen in der ersten Reihe ganz nah am Feuer, denn uns war es ziemlich kalt.
Mr. Spivey trug ein Nachthemd, das er an der Hüfte zu einem dicken Knoten hochgebunden hatte, eine lange enganliegende Hose, so schwarz wie der Londoner Himmel, und Samtslipper an den Füßen. Ihm schien es überhaupt nicht kalt zu sein. Auf seinem Kopf saß ein großer Hut mit breiter Krempe, und alle Leute bewunderten sein Halsband aus Löwenzähnen, die im Feuerschein glänzten. Er warf den brennenden Ast einem Kollegen zu, der ihn mühelos auffing. Die Leute klatschten laut Beifall und schoben die Hände dann wieder in die Taschen.
Als ein Trommelwirbel erklang, zwirbelte Mr. Spivey seinen gewachsten Schnauzbart und erstarrte zu einer Pose, in der er zu dem geteerten Seil hinaufdeutete, das die Straße vom Haus des Schusters bis zu dem von Mr. Rodney überspannte. Es war das Fenster zu Gerties und meinem Zimmer, an dem das Seil befestigt war. Mr. Spivey würde, sollte er sein Kunststück wirklich fertigbringen, von Mrs. Rodney ein kostenloses Abendessen bekommen.
»Er wird es bestimmt nicht schaffen, Gertie, oder?« fragte die kleine Betty Pride, und Gertie lachte. »Ich kann nicht hinsehen!« kreischte sie. »Sag uns, wenn er herunterfällt, Johnny. Ich verrate dir was, Bets. Sophie wird ihn auffangen, wenn er fällt, stimmt's nicht, Soph?«, und sie hieb mir die Faust gegen den Arm.
»Halt den Mund, Gertie«, antwortete ich, und die anderen kicherten. Alle Mädchen waren verliebt in Mr. Spivey, doch ich war die einzige, die sie damit aufzogen. Mit meinen fünfzehn Jahren war mein Herz unwissend wie eine rote Rübe.
Mr. Spivey stand nun auf dem Seil und versuchte sich in seinen Samtslippern auszubalancieren. Die Brust seines Nachthemdes glühte rot im Flammenschein. Mr. Spivey war für uns ein Gott, weil er so schnell und mutig war – obwohl wir seine Frau und seine Kinder jeden Tag auf dem Walk
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