Sophies Kurs
Begräbnis-Prozession vorbei. Kinder sangen, die Konkubinen wehklagten, wilde Bestien und Gefangene schwankten in Käfigen auf langen Tragbalken vorbei. Sklaven trugen Fackeln, die in den düsteren Straßen qualmten und spuckten. An den oberen Fenstern standen weinende Frauen, und Männer bliesen auf klagenden Hörnern.
»K'mecki bedeuten Unglück«, meinte Mr. Cox. »Ich glaube kaum, daß sie zur Trauerfeier zugelassen werden. Auch die Engel nicht, soviel ich weiß.«
Ich sah an mir hinunter, an meinen schäbigen Kleidern, und fragte mich, wieso er sich entschlossen hatte, mich zu der Feier mitzunehmen – als sein einziger Begleiter. Offensichtlich wollte er wie Captain Thrace, der mir die vorbeifliegenden Schiffe zeigte und mir ihre Namen nannte, meinen Horizont erweitern. Ich war mir selbst gar nicht so sicher, daß ich überhaupt an dem Begräbnis teilnehmen wollte. Ich paßte doch nicht zu einem Staatsakt. Ich war ein Niemand, der dort nicht hingehörte.
Sie, verehrter Leser, wissen, daß ich damals ein Niemand war – ich war doch nur Ben Rodney. Sophie Farthing war tot und vergangen. Sophie Farthing hatte sich glücklich schätzen können, solange noch existent gewesen zu sein – unter diesen Voraussetzungen, die sie mitgebracht hatte.
Ich weiß, mir schwebte vor, irgendwann einmal Sophrona zu sein, wenn ich schließlich aus Bens Schuhen herausgewachsen war. Ich dachte daran, den Namen meiner Mutter anzunehmen und mich Sophrona Clare zu nennen. Eine Farthing würde ich niemals mehr sein, auf diese Erbschaft wollte ich verzichten. Ich hatte keinen Vater – glaubte aber manchmal, ich hätte tausend Väter, wäre die Tochter eines jeden, der je das Pflaster von St. Paul's unter die Füße genommen hatte. Wie hätte Mama jemals genau wissen können, wer wirklich mein Vater war?
Warum ich unbedingt Mama, die mich doch so schnöde im Stich gelassen hatte, dadurch ehren wollte, daß ich ihren Namen annahm, war mir nicht klar. Was sie auch gewußt haben mochte – ich jedenfalls wußte immer noch nichts. Aus Mr. Cox' Gerede hatte ich nichts erfahren können. All meine Verdächtigungen waren grundlos gewesen. Jedesmal, wenn ich die Schlüssel zu seiner Kabine mauste und den Schreibtisch mit seinen tausend Fächern durchsuchte, hatte ich nichts gefunden außer Papieren, die mit codierten Zahlen, seltsamen Schriftzeichen und Symbolen bedeckt waren. Nicht mal eine ihrer Haarlocken.
Wir waren in die Trauerprozession eingeschwenkt und folgten einer wuchtigen Sänfte, die mit schwarzen Federn geschmückt war. Schon ragte der Schwarze Brunnen über uns auf wie eine verrückte, geschmolzene schwarze Flasche, die vom Himmel herunterhing. Er hatte eher die Form eines Gebildes, das übergekocht und hart geworden war, als die eines von Hand errichteten Gebäudes. Außerdem war er aus einem Gestein gebaut, das wie Wachs schimmerte. Die Kunstwerke und Verzierungen wirkten wie Blasen und Karbunkel, die man auf die Wände aufgeklebt hatte. Sie zeigten oben und unten Einschnitte, in denen seltsame Röhren angebracht waren. Nirgends konnte ich Fenster erkennen. Darunter befände sich der tiefste Brunnen des Planeten, hatte Mr. Cox mir erzählt. Ich verspürte keine große Lust, hineinzugehen und ihn mir anzusehen.
»Mr. Lismoyle sagte, es sei eine Kathedrale.«
Mr. Cox produzierte sein steifes, gemeißeltes Lächeln. »Die Marsianer haben ihre eigenen Vorstellungen von Gott«, meinte er.
An Gott konnte ich mich gut erinnern. Mrs. Rose hatte ständig von Ihm gesprochen. Ich muß sagen, ich fand das alles ziemlich seltsam. Je mehr Fragen ich ihr gestellt hatte, umso weniger hatte ich begriffen. Beim Anblick dieses schrecklichen Turms mit all den riesigen Krähenwesen darauf war ich mehr denn je überzeugt, daß sie da etwas falsch verstanden haben mußte.
Trotzdem will ich den Leuten, die da zu einem Gott der Liebe beten, ein Zugeständnis machen: Da war irgendwer oder irgendwas, das mich beschützte. Ich hatte mich mehr als einmal in große Schwierigkeiten gebracht. Es gab eine Vielzahl von Gründen, weshalb ich eigentlich längst tot oder in den Kerker geworfen worden sein müßte. Aber immer hatten sich irgendwelche Leute meiner angenommen – Mrs. Rose, Papa, Miss Halshaw und Captain Estranguaro, Mr. und Mrs. Rodney. Selbst ein so hochgestellter Mann wie Mr. Cox fühlte sich dazu aufgerufen, mich unter seine Fittiche zu nehmen, ohne überhaupt zu wissen, wer ich wirklich war. Ich denke, das ist es, was die Leute meinen,
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