Sophies Kurs
konnte man im Halbschatten nicht erkennen.
Mr. Cox dagegen schien etwas erkennen zu können. Ich merkte ganz deutlich, wie er auf der Bank neben mir plötzlich den Atem anhielt und sehr still wurde.
Ich drehte ihm den Kopf zu und sah, daß er nicht in den dunklen und rauchigen Trichter, sondern wie gebannt zu den Spiralen hinter und über uns hinaufschaute – als habe er plötzlich jemand oder etwas gesehen, mit dem er nicht gerechnet hatte.
»Können Sie den Prinzen sehen, Sir?« fragte ich ihn. Zuvor hatte ich einen der Herren auf der Treppe sagen hören, daß der Prinz von Wales anwesend sei, um im Namen von Königin Jessica den letzten Gruß zu überbringen.
Mr. Cox gab keine Antwort.
Ich schaute wieder zur Plattform hinunter und wartete darauf, daß sich meine Augen an das Dunkel gewöhnten. Ich sah winzige Gestalten dort unten, vermutlich Priester, in übermäßig ausgepolsterten Roben, die sie wie Ballone aussehen ließen – Meßdiener, die die Glut in den Kohlebecken anfachten – Wachen mit langen Stachelstöcken, die vor der Figur postiert waren, als wollten sie sie vor irgend etwas schützen.
»Sieht fast aus wie im Whigmaleerie-Theater, Sir.«
»Sei endlich still, Bursche!«
Ich sagte nichts mehr, obwohl ich ihm gerade beweisen wollte, daß er unrecht gehabt hatte: Entgegen seiner Vermutung waren viele Engel anwesend. Sie lagen am Rand der Plattform. Ich glaube, sie waren nackt. Ich hielt sie wegen ihrer breiten Schultern und der ausgefransten roten Stellen auf ihren Rücken, wo ihnen die Flügel abgeschnitten worden waren, für Engel. Doch ließ sich das kaum genau feststellen, denn sie waren sehr zahlreich und lagen alle auf einem Haufen – bewegungslos, als würden sie schlafen.
Und dann begann die Beerdigungszeremonie für den Kaiser vom Mars.
Zuerst hörte man leisen Singsang und Seufzen. Frauen spielten auf Flöten. Das währte eine ganze Weile. Weiter unten auf der Spirale schwankten die Marsianer kontinuierlich vor und zurück und seitwärts, schaukelten wie Menschen in tiefer Trauer. In der Reihe, in der wir saßen, schaukelte keiner. Die Leute rutschten nur unruhig auf den Sitzen herum, unterhielten sich gedämpft und versuchten ihren Husten zu unterdrücken. Tief unten hoben die Zeremoniendiener mit Heugabeln Moos auf die Kohlenfeuer. Der Qualm stieg zu uns hinauf und überschwemmte die Köpfe der Anwesenden wie das Flußwasser die Kieselsteine am Ufer. Er roch bitter und stark, so daß sich der Kopf anfühlte wie ein Batzen Schweineschmalz – stark, dick und weich. Ich rieb mir die Augen und rutschte auf dem harten Sitz hin und her.
Als nächstes erhob sich von allen Seiten ein heftiges Ächzen und Stöhnen. Die Priester bildeten zwei Reihen und hatten die Gesichter einander zugewandt. Der Kern der Trauerprozession ging zwischen ihnen hindurch. Die Zeremoniendiener warfen Salz auf die Feuer und brachten sie so zum Aufflammen, damit alle genau zuschauen konnten. Sklaven kamen herein und zerrten an Seilen, Diener schwangen Dreschflegel, begleitet von jammernden Konkubinen in Fesseln. Dann wurde unter einem schwankenden Baldachin der Kaiser auf seiner Bahre hereingetragen, steif und unbeteiligt. Ich mußte unwillkürlich an Mama denken, an ihre Abbildung aus der Zeitung, wie sie auf ihrem Totenbett lag, und meine Handflächen wurden feucht. Sein Sohn, Prinz Henri, folgte der Bahre in einem glatten weißen Gewand, das in Kniehöhe eingerissen worden war. Als die Menge seiner ansichtig wurde, verdoppelte sich das Jammern und Wehklagen. Der Hohepriester trat vor und kreischte laut auf. Seine Stimme waberte und schwebte durch den Trichter des Brunnens zu uns empor wie der Schrei eines verwundeten Vogels. Der Prinz antwortete ihm mit der starken, kräftigen Stimme eines Mannes, der auf dem Markt Fisch verkauft. Nur war seine Stimme erfüllt von Schmerz und Leid. Wieder sang der Priester, und alle Unterge benen rasselten mit ihren Flegeln. Jetzt packte der Prinz den Baldachin, zog ihn von der Bahre weg und gab so den Blick frei auf seinen Vater. Das Wehklagen der Marsianer wurde lauter und lauter, schwoll immer stärker an und prallte einem ins Gesicht wie der Schlag eines lebendigen Wesens.
Die Sklaven hoben die Tragegriffe der Bahre an und setzten sie mitten auf den Haufen der Engel. Sie kletterten sogar über die Körper, um das sperrige Ding richtig darauf zu plazieren. Danach stiegen sie über Schultern und Beine wieder herunter, verbeugten sich zum Abschied zahllose Male und
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