Sophies Kurs
verschwanden in allen Richtungen von der Plattform.
Die Engel lagen am Rand der Steinzunge, die Figur hockte an ihrer Wurzel. Es war immer noch unmöglich, Einzelheiten davon zu erkennen, wie sie da auf ihrem Schrein im Halbdunkel lag, ein Bündel ausgeformter Spiralen, das aussah wie ein speckiges graues Seil, das man achtlos zu einem Haufen aufgetürmt hatte. Zwischen der Gottheit und der Opfergabe stand nur der Hohepriester zwischen zwei Reihen Kohlebecken, aus denen dichter Qualm aufstieg.
Die übrigen Untergebenen hatten sich hinter den Kohlebecken an den seitlichen Rändern der Plattform aufgestellt.
Jetzt drehte sich der Hohepriester dem Altar zu, hob die Arme und stieß einen lauten, grellen Schrei aus. Sofort traten die Meßdiener mit gefüllten Wasserschüsseln an die Kohlebecken und löschten die Feuer.
Das allgemeine Wehklagen verebbte wieder zu einem rhythmischen, flehenden Singsang. Klatschende Schläge auf die Felswand unterstrichen den Takt, Glocken klangen und Gongs dröhnten. Zu zweit liefen die Wachen mit ihren eisernen Hakenstäben vor und rammten sie in die Statue, wobei sie lauthals schrien, als habe die Figur sie verletzt.
In diesem Moment wurde ich mir wieder der Anwesenheit von Mr. Cox bewußt. Ich spürte seine Nähe, spürte, daß seine Glieder und sein Körper vor Ekel und Abscheu wie erstarrt waren.
Plötzlich kam Leben in die dunkle Figur, diese monströse, gedrungene Gestalt. Sie löste sich aus ihren Windungen und kroch vorwärts.
Ich sprang von meinem Sitz hoch, warf beide Hände um den Kopf und schrie so laut, wie ich konnte.
Mr. Cox zerrte mich an meinem Mantel wieder nach unten. »Setz dich hin, Ben!«
Mein Schrei hatte keine Folgen, denn er ging unter im aufrauschenden Beifall, als das breite Wesen aus seinem nebulösen Schlaf erwachte und mit einem rauhen saugenden Schmatzen von seinem Sockel rutschte. Wo sein graues Fleisch Reflexe der noch nicht erloschenen Flammen auffing, glänzte es wie nasser Kautschuk. Es schraubte sich hoch, ordnete seine Gliedmaßen und fiel klatschend wieder auf den Bauch zurück. Dann kroch es langsam auf den Hohepriester zu.
Ich biß mir in die Handknöchel. Mein Mund schmeckte nach Galle, und mir trat der Schweiß auf die Stirn. Ich wußte, daß ich wimmerte, konnte aber meine Stimme nicht hören.
Der Priester trat zur Seite und blies in ein mächtiges Horn. Die Wachen mit den Lanzen und die Männer mit den Glocken und Gongs traten hinter das riesige Wesen und trieben es vor sich her. Wie der Stamm eines morschen Baums, entwurzelt und entlaubt –wie ein großer schleimiger grauer Handschuh mit viel zu vielen Fingern stemmte sich das Wesen erneut hoch und breitete sich über die Engel, verschlang sie, kletterte über sie und schob sie vor sich her. Körper glitten durcheinander, Glieder fuhren durch die Luft. Der Kaiser auf seiner Bahre begann unsicher zu schwanken.
Der Lärm dauerte an, als wolle er nie mehr enden.
Das Wesen pflügte vorwärts und schob sich weiter über den Engelhaufen. Die Körper am Rand der Plattform rollten darüber hinweg und stürzten klatschend ins Wasser. Ein hohes, verzweifeltes Quieken schien das höllische Konzert zu durchdringen, und blitzartig wurde mir klar, daß es die Engel waren, die dort schrien und kreischten. Sie lebten noch!
Und dann begann die Bahre heftig zu schaukeln und kippte um. Der Kaiser glitt von seiner letzten Lagerstatt und verschwand in der erdrückenden Masse der Engelskörper. Von allen Seiten umzingelt und von den Hörnerklängen zur Raserei getrieben, bäumte das Biest sich ein letztes Mal auf und schob den ganzen Haufen Leiber über die Kante. Mit bösartigem Grollen und einem heftigen Platschen folgte es ihnen in die Wasser des verborgenen Sees, wobei es alles in Reichweite mit seinen scheußlichen Armen umschlang.
Über mir, um mich herum und unter mir erhoben sich die Repräsentanten aller Welten und Nationen und ließen einen Hagel von Kränzen in das Wasser tief unten regnen.
Damit war die Beerdigung vorbei.
Die ganze Zeit über hatte Mr. Cox regungslos auf seinem Platz gesessen und die beringten Hände auf den Knauf seines Stocks gestützt, als sei nicht nur sein Kinn, sondern der ganze Körper aus Eisen. Und so –ich schäme mich, es auszusprechen – saß auch Ben Rodney nach seinem schwachen Protest da, regungslos wie sein Herr. Er saß da und beobachtete alles bis zum bitteren Ende.
So sagen doch die Leute immer –
bis zur bitteren Neige,
oder:
sich fürchterlich
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