Sorge dich nicht - lebe
andern eine Freude bereiten? Die andern tun es auch nicht.› – ‹Sie müssen an Ihre Gesundheit denken›, antworte ich. ‹Die andern werden später auch noch leiden.› Es ist äußerst selten, dass ich einen Patienten finde, der sagt: ‹Ich habe über Ihren Vorschlag nachgedacht.› All meine Bemühungen sind darauf gerichtet, das Gemeinschaftsgefühl des Patienten zu stärken. Ich weiß, dass die eigentliche Ursache seiner Krankheit ein Mangel an Anteilnahme ist, und ich möchte, dass er dies auch erkennt. Sobald er zu seinen Mitmenschen auf einer gleichen und kooperativen Basis eine Beziehung aufnehmen kann, ist er geheilt … Der größte Auftrag der Religion ist immer gewesen ‹Liebe deinen Nächsten› … Es ist das Individuum, das an seinen Mitmenschen nicht interessiert ist, das die größten Schwierigkeiten im Leben hat und andern das größte Unrecht zufügt. Daher rührt alles menschliche Versagen … Alles, was wir von einem Menschen verlangen, ist, dass er ein guter Mitarbeiter, ein Freund aller anderen Menschen und ein wahrer Partner in Liebe und Ehe sein sollte. Dafür gebührt ihm unser höchstes Lob.»
Dr.Adler drängt uns, jeden Tag eine gute Tat zu tun. Und was ist eine gute Tat? «Eine gute Tat», sagt der Prophet Mohammed, «zaubert ein Lächeln der Freude auf das Gesicht des andern.»
Wieso hat täglich eine gute Tat zu tun eine so erstaunliche Wirkung? Weil wir aufhören, an uns selbst zu denken, wenn wir andern eine Freude machen wollen. Wir denken nicht an uns und unsere Sorgen und Ängste und unsere Melancholie.
Mrs.Moon, die in New York eine Sekretärinnenschule leitete, brauchte keine zwei Wochen, um ihre Melancholie mit einer täglichen guten Tat zu heilen. Sie übertraf Alfred Adler noch – eigentlich übertraf sie ihn sogar dreizehnmal. Sie überlegte, wie sie zwei Waisenkindern eine Freude machen konnte, und war schon nach einem einzigen Tag gesund, nicht erst nach vierzehn.
Folgendes passierte. «Im Dezember vor fünf Jahren», erzählte Mrs.Moon, «drohte ich in einer Welle von Trauer und Selbstmitleid zu ertrinken. Nach Jahren einer glücklichen Ehe hatte ich meinen Mann verloren. Als Weihnachten näher kam, wurde ich noch trauriger. In meinem ganzen Leben war ich an diesem Feiertag noch nie allein gewesen, und ich hatte Angst davor. Freunde hatten mich zwar zu sich eingeladen, aber ich hatte das Gefühl, dass ich Fröhlichkeit nicht ertragen können würde. Ich wusste, dass ich nur eine Spielverderberin wäre. Deshalb lehnte ich die so freundlich gemeinte Einladung ab. Kurz vor dem Heiligen Abend konnte ich meine Verzweiflung beinahe nicht mehr aushalten. Dabei hätte ich eigentlich für viele Dinge dankbar sein müssen. Wir alle haben schließlich vieles, wofür wir dankbar sein sollten. Am Tag vor Weihnachten verließ ich das Büro um drei Uhr und schlenderte ziellos die Fifth Avenue entlang in der Hoffnung, dass ich mein Selbstmitleid und meine Traurigkeit irgendwie loswürde. Die Straße war voll von fröhlichen und glücklichen Menschen, und ich beobachtete Szenen, die mich an längst vergangene glückliche Zeiten erinnerten. Der Gedanke, in eine einsame und leere Wohnung zurückkehren zu müssen, war mir unerträglich. Ich war unsicher und verwirrt und wusste nicht, was ich tun sollte. Die Tränen stiegen mir in die Augen. Nachdem ich eine Stunde oder mehr ziellos herumgelaufen war, stand ich plötzlich vor dem Busbahnhof. Mir fiel ein, dass mein Mann und ich aus Abenteuerlust oft einfach in irgendeinen Bus eingestiegen waren. Und so kletterte ich in irgendeinen Bus, der dort wartete. Nachdem wir den Hudson River überquert hatten und eine Weile gefahren waren, hörte ich den Busfahrer sagen: ‹Endstation, Lady.› Ich stieg aus. Ich kannte nicht einmal den Namen der Stadt. Es war ein kleiner friedlicher Ort. Eine Weile wartete ich auf den Bus zurück nach New York, dann wanderte ich eine Wohnstraße entlang und kam zu einer Kirche. Jemand spielte wunderschön Orgel. Es war Stille Nacht, heilige Nacht . Ich trat ein. Die Kirche war leer, bis auf den Organisten. Ich setzte mich unbemerkt in eine Bank. Die brennenden Kerzen des fröhlich geschmückten Christbaums ließen Kugeln und Lametta aufleuchten, als seien es unzählige Sterne, die im Mondschein tanzten. Die lang gezogenen Töne der Orgel und die Tatsache, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, machten mich schläfrig. Ich war abgespannt und bedrückt, und so schlief ich schließlich
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