Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
»Sorry, wir haben uns verfahren«

»Sorry, wir haben uns verfahren«

Titel: »Sorry, wir haben uns verfahren« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Antje; Orth Blinda
Vom Netzwerk:
on Heaven’s Door‹ mit, alle kannten den vollständigen Text.« Und da allein die Fahrt nach Toronto 83 Stunden dauerte, schlief Kessel erst, wenn er müde von der Party wurde.
    Vor allem in Ländern, in denen die Bahn das Hauptverkehrsmittel für die ärmere Bevölkerung darstellt, ist die Neugierde der Einheimischen auf die Europäer und ihr Leben zu Hause groß. »Als Ausländer ist man oft eine Kuriosität, eine willkommene Ablenkung vom langweiligen Bahnfahren«, sagt Kessel, für den Indien mit seinem riesigen Streckennetz das Bahnfahrerland überhaupt ist. Phrasen wie »What’s your ­name? What’s your country? Are you married?« sind dort ­unausweichlich und auf Dauer ziemlich nervig. Häufig sind sie aber auch der Einstieg in ein intensives Gespräch. Unvergessen für Kessel ist eine Unterhaltung mitten in Indien, nachts um 2 Uhr auf einem Bahnsteig. »Den Ort weiß ich längst nicht mehr«, erzählt er, »aber dass der Mann begeistert über die deutsche Krankenversicherung sprach und das US-System verteufelte, das weiß ich noch.«
    Manfred Weis, dem Interrail-Rekordhalter, brachte eine Bahnreise in den achtziger Jahren tiefe Einblicke in die afrikanische Politik. Auf der Fahrt von Kairo nach Khartum lernte er nach der Überfahrt über den Nasser-Stausee den sudanesischen Arzt Hassan kennen. Heftige Regengüsse hatten Gleise weggeschwemmt, die Weiterfahrt verzögerte sich, dann verbrachten sie 48 Stunden gemeinsam im Zug, Hassan erzählte von seiner Verwicklung in die südsudanesische Freiheitsbewegung, zeigte Weis dann seine Heimatstadt Khartum und sein Zuhause. »Wäre ich mit dem Auto unterwegs gewesen«, sagt Weis, »hätte ich ihn nie getroffen.« Die beiden sahen sich in Deutschland wieder. Und Jahrzehnte später verfolgte Weis die Unabhängigkeitsfeier des Südsudans mit einem ganz anderen Verständnis.
    Umgeben von einer fremden Kultur, herausgerissen aus dem Alltag, sind Reisende oft empfänglicher für Neues – was manchmal auch ihr Leben verändert. Der Informatiker Weis kam auf einer mehrmonatigen Bahnfahrt von Deutschland nach Hongkong mit einer holländischen Reiseveranstalterin ins ­Gespräch. Begeistert von ihren Ideen ließ er nach seiner Heimreise die IT zunächst ruhen und machte ein Reisebüro auf. Bei dem Biologen Björn Felder war es eine Begegnung in einem indischen Zug: Auf der Fahrt von Delhi nach Agra, in einem vollbesetzten Abteil, ergriff ein Mitte-50-jähriger, bis dahin schweigsamer Mitfahrer plötzlich seine Hände, drehte sie nach oben und sagte: »Ich bringe dir jetzt was über Indien bei.«
    Umringt von rund 20 Leuten, forderte der schlanke Mann in Jeans Felber auf, sich den Kopf zu reiben und dann die ­Augen zu schließen. »Angst und Zweifel werden beseitigt. Verbinde dich mit der Quelle«, sagte er und meinte damit den höchsten Geist des Hinduismus. Der deutsche Tourist spürte einen Druck auf dem Kopf und Wärme »wie von einem Lichtstrahl«. Der Inder – der eine große Ruhe ausstrahlte, wie ­Felber erzählt – verabschiedete sich in der Taj-Mahal-Stadt Agra. Und Felber? War von dem spirituellen Erlebnis tief berührt. Seitdem meditiert der Naturwissenschaftler täglich.
    So grandios und faszinierend die Landschaften sind, die vor den Zugfenstern vorbeiziehen, so mühsam ist oft auch das ­Reisen in den Zügen Afrikas, Indiens und vieler Schwellenländer. Die Bürokratie ist überbordend, die Streckennetze sind marode, Züge und Technik stammen zum Teil noch aus Kolonialzeiten. Selbst an den bequemeren Waggon-Varianten wie Softseater und Foursleeper hat der Zahn der Zeit genagt.
    Für Zugfahrer aus Überzeugung macht genau das den Reiz des Transportmittels aus – hilfreich sind außerdem ein paar Eigenschaften: »Man muss auch mal ein paar Stunden nur Landschaft angucken können, ohne sich zu langweilen«, sagt Maria Seffar, »und man darf nicht internetsüchtig sein. In ­Indien muss man die oft dreckigen und überfüllten Waggons ertragen können, und man darf keine Berührungsängste haben – oft quetschen sich so viele Leute wie nur möglich auf eine Bank, Armlehnen gibt es nicht.«
    Â»Zeit und Geduld muss man mitbringen, wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln um die Welt reist«, sagt Kessel. »Zeit ist viel

Weitere Kostenlose Bücher