Sorry
Solonummern mehr , denkt er und fragt Tamara, ob sie mitkommen will.
Sie laufen zur S-Bahn und stehen eine Weile auf dem Bahnsteig herum, als könnte Wolf jeden Moment aus einem der Züge steigen. Ein feiner Nieselregen beginnt zu fallen und schwebt unentschlossen in der Luft. Sie wissen nicht, was sie reden sollen. Auf dem Rückweg zur Villa will Kris von seinem Verdacht erzählen. Wieso sollte sich jemand, der Menschen an eine Wand nagelt, an Regeln halten? Kris läßt es sein, weil Tamara nicht einmal weiß, daß sie Meybach aufgesucht haben.
Die Waffe fällt ihm ein. Sie liegt in seinem Kleiderschrank, weit hinten bei den Socken. Da hat er sie gestern abend zumindest hingelegt.
– Was ist? fragt Tamara.
– Nichts, ich ...
Kris will rennen, er will Tamara stehenlassen und zur Villa rennen, um nach der Waffe zu sehen. Denn wenn die Waffe nicht da ist, dann ist eindeutig, was geschehen ist. Ein Teil von ihm will, daßsich die Waffe an Ort und Stelle befindet, ein anderer Teil wünscht sich, daß Wolf sie gefunden hat und zu Meybach gefahren ist. Bitte.
Die Waffe liegt noch immer hinter den Socken.
Kris wandert rastlos durch die Villa und sucht weiter nach Spuren. Er wünscht sich, er hätte einen Spürhund. Da ist ein Gefühl, als wäre Wolf anwesend, obwohl er nicht anwesend ist. Wo bist du nur? Für einen Moment legt Kris sogar ein Ohr an die Wand und lauscht. Er weiß, er muß sich zusammenreißen.
– Wenn Wolf sich bis morgen früh nicht gemeldet hat, gehen wir zu Gerald, beschließt er am Abend. Wir gehen zu Gerald und erzählen ihm alles. Und vergiß die Konsequenzen. Hier geht es um Wolf.
Jeder unnötige Anrufer wird an diesem Abend abgewimmelt. Sie warten weiter. Der Samstag wird zum Sonntag. Sie warten bis ein Uhr morgens, sie warten bis zwei, dann können sie nicht mehr und klappen zusammen. Die nervliche Anspannung holt sie ein, und sie fallen erschöpft auf die Betten. Unruhe durch und durch. Kris wälzt sich von einer Seite zur anderen und träumt von dem Waldstück. Sie sind dabei, den Mann zu begraben, und plötzlich ist er nicht mehr tot. Er liegt im Schlafsack und beginnt zu reden und sagt, daß er nicht lebendig begraben werden will.
Verdammt, laßt mich raus!
Kris erwacht schwer atmend und schaltet das Licht ein. Es ist zehn vor vier. Er starrt die Zimmerdecke an, die Zimmerdecke starrt zurück. Sein Kopf ist ein hohler Raum. Er steht auf, holt den Fernseher aus seinem Arbeitszimmer und stellt ihn vor das Bett. Immer wieder dämmert er weg, immer wieder erwacht er und sieht auf den Bildschirm. Als das Morgenlicht sein Zimmer blau einfärbt, schaltet er den Fernseher aus und steigt unter die Dusche. Danach die Zahnbürste, danach sein Spiegelbild. Als er nach unten kommt, wundert er sich nicht, daß Tamara längst wach ist. Sie liegt auf dem Sofa. Buch in der Hand, Teekanne und Becher auf einem Beistelltisch.
– Wie lange? fragt er.
– Seit vier, sagt sie.
Das blaue Morgenlicht ist verschwunden, die Sonnenstrahlen taumeln durch die Fenster, als wären sie noch betrunken von der Nacht. Staub glitzert in der Luft. Tamara und Kris setzen sich in die Küche und früh stücken. Sie wollen nicht in den Wintergarten. Im Wintergarten saßen sie vorgestern früh noch zu dritt. Nichts ist, wie es sein sollte. Sie sind so in sich gekehrt, daß ihnen nicht einmal der Zettel zwischen den Plakaten auffällt.
Eine unangenehme Stille breitet sich aus. Es ist traurig, wenn man mit den Menschen, die einem nahe sind, die Ruhe nicht ertragen kann , denkt Kris und steht auf.
– Ich mach mal Musik an.
Im Wohnzimmer geht er vor der Anlage in die Hocke, kramt in den CDs und legt Iron & Wine ein. Die Gitarre, die Stimme. Als er sich wieder aufrichtet, fällt sein Blick nach draußen. Es ist eindeutig das falsche Wetter, um seinen Bruder zu vermissen, genauso, wie es drei Tage zuvor das falsche Wetter war, um eine Freundin unter die Erde zu bringen. Der Frühling explodiert, Kris sieht es überall. Er will wieder zu Tamara und ihr sagen, daß sie Gerald anrufen können, daß ihm das Wetter auf die Nerven geht, daß er genug davon hat, in seinem Kopf nach Erklärungen für Wolfs Verschwinden zu suchen, als er auf der Erde ein Schimmern erkennt. Es ist wie ein Déjà-vu. Er schaut erschrocken auf seine Füße und erwartet, daß sie in einer Pfütze stehen. Dann schaut er nach rechts. Wolf ist nicht an seiner Seite, Tamara sitzt noch immer in der Küche, Kris steht allein im Wohnzimmer, und
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