Sorry
nicht, oder?
– Natürlich tun wir das nicht, sagt Wolf und zerknüllt den Zettel. Wir verschwinden hier und finden Frauke und ... Was ist? Wieso schaust du mich so an?
Kris denkt an die Fotos in der Papiertüte. Ihm geht nicht aus dem Kopf, wie unschuldig Jenni dort kniet und sich den Schuh zubindet. Wie nahe ist Meybach ihr gekommen? Er denkt an seinen Vater, an Fraukes Mutter. Und dann sind da all die Spuren, die sie hier zurückgelassen haben. Das Blut von Wolfs Wunde. Die Fingerabdrücke.
Wir können hier nicht einfach verschwinden. Meybach weiß, wer wir sind.
– Kris, bitte sag was, verlangt Tamara.
Kris sagt, was er denkt.
DER MANN, DER NICHT DA WAR
Er weiß, wie gefährlich es ist, hierzusein, dennoch betritt er das Haus. Er durchquert den Hinterhof und sieht für einen Moment auf. Über ihm leuchtet das Rechteck des Himmels wie ein Fenster ins Nichts. Er senkt den Blick wieder, die Augen sind unruhig. Er weiß, wie gefährlich es ist, hierzusein, dennoch geht er die Stufen hinauf. Hastig, denn er ist in Eile. Jede einzelne Stufe ist ihm vertraut. Das abgenutzte Holz des Treppengeländers gleitet unter seiner Hand dahin. Er geht bis in das oberste Stockwerk und bleibt vor der Tür stehen. Er weiß, wenn die Tür verschlossen ist, wird er wieder runtergehen. Er wird nichts versuchen. Er wird gehen und - - -
Die Tür ist offen.
Er tritt ein. Er geht durch den Flur. Er sieht in die Küche. Wie oft hat er schon in dieser Küche gestanden? Verkommen, alles ist verkommen. Er geht weiter durch den Flur und betritt das Wohnzimmer und bleibt stehen. Er sieht sie. An der Wand. Er sieht sie und bricht in Tränen aus. Er geht zu ihr und berührt ihr Gesicht. Zu spät. Er leidet. Er spürt den Schmerz. Er kann nicht aufhören, ihr Gesicht zu berühren. Sein Herz verkrampft sich. Sein Herz macht eine Pause, dann schlägt es weiter. Er wendet sich ab, atmet tief durch und sieht sie wieder an. Wie sie da hängt. Wie ihre Augen starren. Er will sie schließen, er muß sie schließen. Also tritt er vor und streckt sich. Ihre Augenlider fühlen sich an wie Pergament.
Er verläßt die Wohnung. Er fühlt sich uralt. Er geht durch den Hinterhof und bleibt vor dem Haus stehen. Uralt und ausgebrannt. Er überquert die Straße. Der Verkehr umfließt ihn, er hört kein Hupen, er sieht keine Gefahr. Er überlegt, was er tun soll. Er kann das nicht einfach geschehen lassen. Er kann nicht. Er trägt Verantwortung. Und so beschließt er abzuwarten, bis sie zurückkommen.Woher er weiß, daß sie zurückkommen? Er weiß es einfach. Er kann spüren, daß sie noch nicht fertig sind mit ihr. Also wird er warten und auf eine Antwort hoffen. Auf jede Frage gibt es eine Antwort. So war es schon immer, so wird es immer sein.
TEIL III
danach
Er versucht, mit mir zu reden. Er versucht, sich zu erklären.
In unregelmäßigen Abständen setze ich den Blinker und halte nur, wenn der Rastplatz wirklich verlassen ist. Ich öffne den Kofferraum und sehe ihn da liegen. Er kann mich nicht sehen, ich habe ihm die Augen verklebt. Die Augen, den Mund. Ich will nicht, daß er mich ansieht; ich will seine Stimme nicht hören. Im Kofferraum stinkt es nach verbrannter Haut, Urin und Schweiß. Es ist eine widerliche Mischung, aber ich kann sie ertragen. Ich kann eine Menge ertragen.
Er bekommt von mir nur Wasser. Ich habe ihm die Regeln erklärt. Am Anfang hat er nicht darauf gehört. Ich riß das Klebeband von seinem Mund, und er schrie sofort los. Er konnte nicht wissen, wo wir waren. Er konnte nicht wissen, daß alle zehn Sekunden ein Lastwagen an uns vorbeidonnerte. Niemand konnte seine Schreie hören. Dennoch machte ich meine Drohung wahr, verklebte ihm den Mund, schloß den Kofferraum und fuhr weiter. Die nächsten drei Stunden blieb er durstig.
Das nächste Mal war er still. Ich goß ihm Wasser in den Mund. Er hustete, er blieb still und wollte dann mit mir reden. Ich goß mehr Wasser hinterher und verklebte ihm wieder den Mund. Er versuchte, sich zu bewegen. Er hat keinen Platz, um sich zu bewegen. Er ist eingeklemmt zwischen Kissen und Decken. Seine Füße sind verklebt, die Knie, auch die Arme. Er ist ein verschnürtes Paket. Er kann nicht einmal den Kopf bewegen. Er existiert nicht mehr wirklich.
davor
TAMARA
Wolf hat beide Hände am Lenkrad. Die Kiefermuskeln sind angespannt, der Blick fixiert die Straße. Kris sieht immer wieder nach hinten zu Tamara, als wolle er sichergehen, daß sie noch da ist. Tamara ignoriert ihn und schaut
Weitere Kostenlose Bücher