Sorry
keine zufriedenstellende Antwort, wenn man in einer frisch ausgehobenen Grube steht und eine Leiche im Kofferraum liegen hat. Kris ist froh, daß Wolf und er in diesem Moment nicht allein sind. Tamara dient als Puffer.
– Tu mir einen Gefallen, kleiner Bruder, sagt Kris. Reiß dich zusammen und laß uns das hier zu Ende bringen. Sobald wir zu Hause sind, können wir über alles reden. Dein Gejammer bringt uns im Moment nicht weiter.
Wolf reagiert nicht, er sieht Kris nur an. Tamara schaltet sich ein.
– Wolf? sagt sie beinahe flüsternd, als wollte sie ihn nicht mit ihrer Stimme erschrecken. He, Wolf, wer ist die Tote?
– Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?
– Hast du sie dir genau angesehen?
– Natürlich habe ich das. Wieso fragst du?
– Erinnert sie dich an irgend jemanden?
– Tamara, hör auf damit.
– Ich frage nur.
– Und ich bitte dich, damit aufzuhören.
– Dann sag es.
– Das ist albern.
– Auch wenn es albern ist, will ich es von dir hören, bitte.
– Sie ist nicht Erin, okay. Ich weiß das.
– Und dennoch bist du der Meinung, wir sollten uns ethisch verhalten und sie hier nicht vergraben?
Wolf hält den Blickkontakt, bis Tamara wegschaut. Kris weiß, wie sehr sein Bruder rhetorische Fragen haßt. Besonders wenn diese Fragen von Tamara kommen. Es entblößt, was sie über Wolf denkt und ihm zutraut.
– Ich weiß nicht, was du hören willst, sagt er, aber ich weiß, was auch immer hier geschieht, es hat nichts mit Erin zu tun.
Mit diesen Worten lehnt er den Spaten an den Grubenrand und klettert hinaus. Kris kann es nicht glauben. Er bleibt zurück wie ein auf Pause gestellter Idiot, der einen Spaten in der Hand hält. Wolf setzt sich in den Wagen. Er wird für Sekunden von der Innenbeleuchtung erhellt, dann schnappt die Fahrertür zu, und sein Gesicht verschwindet wieder in der Dunkelheit.
– Scheiße, sagt Tamara.
Kris schließt die Hände fester um den Spatengriff, der Druck ist zuviel, er weiß nicht, wohin mit seiner Wut; er will sie abstreifen und aus dem Grab schaufeln. Natürlich geht das nicht, also klettert er aus der Grube und folgt Wolf zum Wagen. Er reißt die Fahrertür mit einem Ruck auf und sieht Wolfs erschrockenes Gesicht. Kris packt ihn am T-Shirt und zieht ihn nach draußen wie einen ungehorsamen Hund. Die Schläge kommen automatisch. Kris kann sienicht kontrollieren, und wenn er ehrlich ist, will er sie auch nicht kontrollieren. Sein Arm geht hoch, sein Arm kommt runter, Wolf ist chancenlos. Er versucht, auf den Beinen zu bleiben, und taumelt, er rutscht auf dem Laub aus und fällt. Kris packt zu, schleift Wolf hinter sich her zum Grab.
Das Unheimliche ist, daß die Brüder dabei kein Wort wechseln. Alles geschieht in einer beängstigenden Lautlosigkeit, als wäre es ein Rückblick auf einen Rückblick, aus dem der Ton mit der Zeit gelöscht wurde. So fühlt es sich zumindest für Kris an. Er hört das Keuchen und die dumpfen Schläge nicht. Alles scheint dicht in Watte gepackt zu sein. Später wird Kris erfahren, daß Wolf die ganze Zeit über versucht hat, mit ihm zu reden, und daß Tamara ihn anschrie, er solle aufhören.
Später ist nicht jetzt.
Kris schleift seinen Bruder zur Grube, damit der seine Arbeit fortsetzt; um mehr geht es Kris nicht. Die Wut hat ihn so sehr im Griff, daß er den Schatten erst sieht, als es zu spät ist. Der Spaten trifft ihn am Hinterkopf, und die Explosion läßt sein Bewußtsein in einem grellen Nichts verschwinden.
TAMARA
Es ist einige Minuten vor Mitternacht, als sie in die Einfahrt der Villa einbiegen. Kris ist noch unsicher auf den Beinen, Tamara und Wolf helfen ihm beim Aussteigen und stützen ihn beim Treppensteigen. Wolfs Nase hat aufgehört zu bluten, das linke Auge ist fast zugeschwollen, und auf der Vorderseite seines T-Shirts sind dunkle Flecken zu sehen.
Fraukes Wagen steht an seinem Platz, und im Erdgeschoß brennt Licht. Obwohl Tamara wütend auf ihre beste Freundin ist, kann sie beim Anblick des Wagens ein Gefühl der Erleichterung nicht leugnen. Kris spricht es aus:
– Zumindest wissen wir jetzt, wo sie steckt.
Frauke sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer und schaut auf, als sie her einkommen. Tamara begegnet ihrem Blick und fragt sich erschrocken, wohin ihre starke Freundin verschwunden ist. Frauke wirkt klein und zerbrechlich, ihre Stimme dagegen ist dieselbe geblieben, fordernd und genau.
– Wo seid ihr gewesen?
Tamara will ihr die gleiche Frage stellen, als sie sieht, daß Frauke nicht
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