Sorry
Winterdienst ist unterwegs und wird bald auch an ihr vorbeifahren. Frauke holt die Zigarettenschachtel aus ihrem Mantel. Der erste Zug bringt sie zum Würgen, danach ist es besser. Eine Zigarette mehr kann nicht schaden, denkt sie und starrt so intensiv über das Eis, daß die Landschaft schmilzt und wie ein nebliger Traum vor ihren Augen wabert.
Nachdem sie Gerald im Café hat sitzenlassen, ist Frauke durch das Schneetreiben nach Potsdam gefahren, hat sich als Besucherin angemeldet und ist in den hinteren Flügel der Klinik gegangen, in dem sich die Wohnung ihrer Mutter befindet. Sie hat sich dabei gefühlt, als wäre sie in einem Wachtraum. In all den Jahren ist sie kein einziges Mal allein hier gewesen. Es hätte sich falsch angefühlt.
– Wo ist denn der Herr Vater?
Frauke schrak zusammen, als die Stimme von Frau Sanders hinter ihr erklang. Sie drehte sich nicht um, sie hatte genau vor Augen, wie Frau Sanders im Türrahmen ihrer Wohnung stand – auf Zehenspitzen und darauf bedacht, eine unsichtbare Linie nicht zu überschreiten.
– Er kommt heute nicht, sagte Frauke.
– Aha, bei der Frau Mutter gehen sie aber auch ein und aus. Nuttengeschäfte würde ich mal sagen. Ist sie mal wieder schwanger? Da kann man kein Licht anmachen, da bleibt der Kopf dunkel.
Frauke ignorierte Frau Sanders und blieb vor der Tür ihrer Mutter stehen. Nr. 17. Sie legte ein Ohr gegen das Holz. Sie war nervös, aber wahrscheinlich wäre jeder nervös, der elf Jahre nicht mit seiner Mutter gesprochen hat.
Tanja Lewin begann, das Böse in ihrer Tochter zu sehen, nachdem ihr Mann sie in die Privatklinik eingewiesen hatte. Eines Tages – sie waren während der Besuchszeit im Garten gewesen, und der Vater war kurz auf die Toilette verschwunden – nahm Tanja Lewin ihre fünfzehnjährige Tochter zur Seite und sagte:– Ich weiß, wer du bist und wer sich hinter deinem Gesicht versteckt. Und ich weiß, was du getan hast. Sieh mich an, oder fällt dir das so schwer? Wegen dir bin ich hier. Wegen dir ist das alles geschehen.
So fing es an.
In den Nächten klingelte das Telefon, und wenn der Vater den Hörer abnahm, wurde die Verbindung unterbrochen, nur wenn Frauke ans Telefon ging, zischte die Mutter ihr ins Ohr:
– Wie geht es meinem Hurenkind? Weißt du, daß ich hier eingesperrt bin, während du mit deinem Vater das Bett teilst? Wie sehr mußt du mich hassen, daß du mir das antust?
Die Ärztin der Mutter fragte Frauke immer wieder, wie sie sich fühlen und wie sie mit der Krankheit ihrer Mutter klarkommen würde. Sie wollte wissen, ob die Mutter ihr Vorwürfe gemacht hätte, und erklärte wiederholt, daß Tanja Lewin unzurechnungsfähig sei und Menschen und Situationen durcheinanderbringen würde. Wenn das so ist , hätte Frauke am liebsten gesagt, wieso beschuldigt sie dann nur mich und nicht auch meinen Vater? Frauke hielt den Mund. Gegenüber der Ärztin und auch ihrem Vater gegenüber. Sie wollte nicht, daß irgend jemand von den Drohungen der Mutter erfuhr, weil sie Angst hatte, daß die Ärzte die Medikation ihrer Mutter erhöhen oder ihr noch Schlimmeres antun würden. Tief in Frauke verborgen lag die Hoffnung, daß, wenn alle dachten, ihre Mutter wäre normal, sie bald nach Hause kommen und ihr altes Leben wiederaufnehmen könnte.
Deswegen stand Frauke während der Besuchszeiten nur noch im Hintergrund und vermied es, ihre Mutter anzusehen. Das schlimmste daran war, daß es auch klare Momente im Leben ihrer Mutter gab, in denen sie warm und herzlich war und Frauke zu sich rief. Dieses Wechselbad der Gefühle drohte Frauke mehr und mehr zu zerreißen.
Der große Bruch kam in dem Jahr, in dem Frauke ihr Abitur bestand und für zwei Monate nach Italien reiste. Ihre Mutter war so enttäuscht von ihrer Abwesenheit, daß sie nach Fraukes Rückkehr aufhörte, mit ihr zu sprechen. Und so ist es bis zum heutigen Tage geblieben.
Frauke holte tief Luft, klopfte und drückte die Klinke herunter. Die Wohnung war verlassen, ihre Mutter befand sich auch nicht im angrenzenden Bad. Frauke schaute auf die Rückseite der Tür, wo der Wochenplan hing. Heute gab es Nudeln, überbacken mit Käse, und dazu Rucolasalat. Unter Samstag war ein S groß geschrieben und umrandet.
Frauke wußte jetzt, wo sie ihre Mutter finden konnte.
Den Vorhang vor dem schmalen Fenster der Tür mußte Frauke zur Seite schieben, um ihre Mutter auf einer Bank sitzen zu sehen. Sie war nackt und allein. Frauke klopfte gegen das Glas, ihre Mutter
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