SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
Konzepten gemacht und sehe das auch heute in anderen Einrichtungen. Dort laufen die Kinder noch mehr aus dem Ruder als bei uns, weil sie im Rahmen der Angebotspädagogik kaum noch Anleitung und Beziehung haben, sondern weitgehend sich selbst überlassen sind.
Was hat diese Entwicklung für Auswirkungen auf Sie und Ihr Verhältnis zu Ihrem Beruf?
Ich hätte es mir früher nie vorstellen können, aber ich muss es mittlerweile ganz ehrlich sagen: Ich mache meinen Beruf nicht mehr gern. Wenn ich die Möglichkeit hätte, noch einmal mit etwas ganz anderem neu anzufangen, würde ich es sofort tun. Während der Arbeit verdränge ich solche Gedanken natürlich, aber ich habe auch manchmal Angst, dass man es mir anmerkt und ich meine Arbeit nicht mehr so mache, wie es meinem Anspruch an mich selbst genügt. Das Letzte, was ich möchte, ist, dass die Kinder unter meiner Erschöpfung leiden, aber ich sehe diese Gefahr durchaus, bei mir genauso wie bei Kolleginnen in anderen Kindergärten.
Beim Austausch mit anderen Einrichtungen kommen ähnliche Geschichten auf den Tisch?
Ja, klar. Hätte ich das Gefühl, es liegt nur an uns oder gar an mir, hätte ich längst die Konsequenzen gezogen. Aber ich spreche oft mit anderen Leiterinnen und Erzieherinnen, und es ist mehr als einmal vorgekommen, dass irgendwann die Tränen fließen, weil das Gefühl besteht, der Situation mit zu vielen problembeladenen Eltern und Kindern nicht mehr gewachsen zu sein. Viele von uns fühlen sich zum Reparaturbetrieb degradiert, der retten soll, was in den Familien nicht mehr klappt.
Man kann es also drehen und wenden, wie man will, die Konzeptänderungen in vielen Kindergärten müssen andere Hintergründe haben als die Erkenntnis der Erzieherinnen selbst, dass etwas nicht stimmt. Um welche Hintergründe es sich handelt, macht ein Zitat aus dem frisch umgestalteten und schriftlich ausformulierten Konzept eines anderen Kindergartens in Nordrhein-Westfalen deutlich. Zu dem Punkt »Ziele der pädagogischen Arbeit und deren Umsetzung« gibt es einen Unterpunkt, der bezeichnenderweise den Titel »Das Bild vom Kind« trägt. In aller Eindeutigkeit heißt es da:
»Das Bild vom Kind hat sich in der Erziehungswelt in den letzten Jahren stark gewandelt. Das Kind ist dabei um ein Vielfaches selbständiger und emanzipierter geworden. Das Streben nach Autonomie, danach, sich selbst und seinen eigenen Weg zu finden, die Individualität, die Persönlichkeit und die Selbständigkeit des Kindes bilden, unter Berücksichtigung der Selbstbildungsprozesse, die Basis der gesamten pädagogischen Arbeit.«
In diesen wenigen Sätzen liegt das Dilemma, dem ich mich seit Jahren widme, versteckt. Das heißt: Eigentlich tritt es sogar offen zutage, die Verantwortlichen im Kindergarten sehen es aber nicht und können es daher auch nicht angehen.
Besonders den zweiten Satz des eben angeführten Zitats muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. »Das Kind ist dabei um ein Vielfaches selbständiger und emanzipierter geworden.« Was genau behaupten die Autoren hier eigentlich? Wer den Satz im Zusammenhang mit dem ersten aufmerksam liest und interpretiert, stellt erstaunt fest, dass sich Kinder offensichtlich freiwillig total verändert haben, und zwar, weil die Erziehungswissenschaft ein neues Bild vom Kind etabliert hat.
Wer richtet sich hier nach wem? Offensichtlich betrachtet nicht die Erziehungswissenschaft das Kind beziehungsweise die Kinder und passt danach ihre Theoriebildung an. Im Gegenteil: Sie setzt unterschiedliche Theorien in die Welt und erstellt danach ein neues Bild vom »idealen« Kind, das anschließend auf alle real existierenden Kinder projiziert wird.
Doch wie sollte dieser Prozess in der Realität vonstatten gegangen sein, wie sind unsere Kinder plötzlich »selbständiger und emanzipierter« geworden, und zwar »um ein Vielfaches«? Haben wir heute tatsächlich komplett andere Menschen als früher? Sind gesicherte entwicklungspsychologische Erkenntnisse pulverisiert worden und gelten nicht länger? Sicher nicht.
Diese Feststellung resultiert einzig und allein aus der zitierten Wandlung des »Bildes vom Kind«. Die Erziehungswissenschaft hat mit Macht ein neues »Bild vom Kind« entworfen, aus dem wiederum die unterschiedlichen »Konzepte vom Kind« entstanden sind, die ich vor allem in Tyrannen müssen nicht sein erläutert habe: »Das Kind als Partner«, »Ich will vom Kind geliebt werden« sowie »Das Kind ist Teil meiner selbst«. Es sind also
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