SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
1972 im Schnitt 6,9 Fehler pro hundert Wörter gemacht wurden, 2002 bereits 12,3 Fehler und 2012 15,9 Fehler. Weiterhin zitiert der Artikel die Schulleistungsstudie DESI, nach der »nur noch jeder fünfte Neuntklässler die deutsche Orthografie einigermaßen sicher beherrscht«. Von »16 Fehlern in einem Testdiktat mit 68 Wörtern« ist die Rede, also ein Ergebnis, das noch verheerender erscheint als der vorhin erwähnte Aufsatz.
Meine Forderung nach Langzeitstudien für neue pädagogische Konzepte gilt aber nicht nur für die Rechtschreibung, sondern auch für Neuerungen wie die Lerntheken, den jahrgangsübergreifenden Unterricht, die Sitzordnung im Klassenraum, Spielecken und vieles mehr.
Aber lassen Sie mich noch einmal zurückkommen auf die pädagogische Idee des freien Schreibens: Ihr liegt der Gedanke zugrunde, Entwicklung beim Kind beziehungsweise beim Jugendlichen finde von ganz allein statt, ohne Zutun durch Erwachsene – ein Irrglaube, der jedoch immer stärker zu grassieren scheint. Dabei ist es eine Tatsache, dass Kinder viele Dinge erst mühsam einüben müssen, kaum etwas ist einfach irgendwann von selber »da«. Mit der Rechtschreibung verhält es sich keinen Deut anders. Hinzu kommt aber noch ein weiterer wichtiger Aspekt: Wenn der Lehrer in der Schule von vornherein die richtige Rechtschreibung mit den Kindern einübt und sie ihnen auch abverlangt, dann üben die Kinder nicht nur die Rechtschreibung, sondern sie üben sich auch in weiteren Fertigkeiten, beispielsweise in Arbeitshaltung und Frustrationstoleranz. Das Kind kann erleben, dass es nicht alles einfach kann, sondern vieles üben und sich erarbeiten muss, wobei es sich am Lehrer ausrichtet, der es korrigiert und ihm damit eine klare Orientierung gibt.
Dadurch bildet sich in der Psyche des Kindes eine zusätzliche Kontrollinstanz, die im späteren Leben, wenn der erwachsene Mensch seine Arbeitsweise selbst kontrollieren muss, wichtig ist. Nur derjenige Erwachsene, der als Kind und Jugendlicher eine solche Kontrollinstanz entwickeln konnte, kann später, im Berufsleben, sich selbst die Frage stellen: »Habe ich das richtig gemacht?«, und damit das Ergebnis seiner eigenen Arbeit kontrollieren. Viele Heranwachsende können sich diese Frage heute gar nicht oder nicht mehr in ausreichendem Maße stellen. Sie kommen also gar nicht mehr auf die Idee, sie könnten etwas falsch gemacht haben.
Somit trägt also alles, was Lehrer Kindern in der Schule abverlangen, entscheidend zur Bildung der emotionalen und sozialen Psyche bei. Das scheinen viele Lehrer heute jedoch nicht mehr zu wissen, mit dem Ergebnis, dass sie die Kinder doppelt betrügen. Um beim Beispiel der Rechtschreibung zu bleiben: Sie betrügen zum einen die Schüler darum, dass sie eine wichtige Fähigkeit, nämlich fehlerfreies Schreiben, erlernen und später darüber verfügen können. Darüber hinaus betrügen sie sie um die Bildung wichtiger Anteile ihrer Psyche, die sie brauchen, um im späteren Leben klarzukommen. Spätestens bei der Berufsausbildung rächt sich das Fehlen dieser Fähigkeiten. Die fehlende Schreibkompetenz könnte ja zur Not noch durch Rechtschreibprogramme am PC kompensiert werden. Doch die fehlende Förderung der emotionalen und sozialen Psyche einschließlich des Einübens weiterer psychischer Funktionen kann nichts ersetzen.
An dieser Stelle muss die Frage erlaubt sein, welche Rolle Lehrer bei diesem Betrug an den Kindern spielen. Wie viele Lehrer haben beispielsweise die Probleme bei der Rechtschreibung kommen sehen und trotzdem nicht protestiert? Wieso macht es den Eindruck, als hätte die komplette Lehrerschaft einen Maulkorb verpasst bekommen? Mir scheint, derzeit werde viel geduldet, erduldet und verschwiegen. Mir scheint auch, dass damit der »Gehorsam« gegenüber dem Dienstherrn zu weit geht, und ich befürchte, dass auf diese Weise ein großer Prozentsatz von Kindern massive Probleme im Leben haben wird.
Exkurs: Ein Berufsschullehrer berichtet
Es ist also Betrug an unseren Kindern, wenn Lehrer sie über die gesamte Schulzeit hinweg in dem Glauben lassen, sie seien optimal aufs Leben vorbereitet, obwohl in Wirklichkeit nur die Anforderungen abgesenkt wurden. Den Beweis dafür liefert ein Blick auf die Schnittstelle zwischen Schule und Berufsleben: Ich habe viel mit Berufsschullehrern, mit Ausbildern und Unternehmern zu tun. Fast alle berichten ähnliche Dinge wie dieser Berufsschullehrer hier, der freundlicherweise für ein Gespräch zur Verfügung
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