SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
stand:
Sie sind Lehrer an einem Berufskolleg. Welche Art von Schülern unterrichten Sie dort?
Ich unterrichte in der technisch-handwerklichen Richtung wie beispielsweise bei Maurerklassen. Generell ist es am Berufskolleg so, dass dort alle nachschulischen Ausbildungsmöglichkeiten zusammengefasst sind. Bei uns gibt es also Berufsschüler, Schüler, die ein Berufsgrundschuljahr machen oder auch welche, die den erweiterten Hauptschulabschluss erreichen wollen, also das, was man heute als »10b« bezeichnet. So eine Klasse habe ich derzeit auch.
Spüren Sie Veränderungen in der Schülerschaft? Wenn ja, welche, und wie erklären Sie sich diese?
Das ist eigentlich das Seltsame. Ich spüre genauso wie auch die meisten meiner Kollegen deutliche Veränderungen, aber bisher fehlen uns wirklich brauchbare Erklärungsansätze für diese Veränderungen.
Was hat sich verändert?
Das Leistungsniveau insgesamt ist in erschreckendem Maße gesunken. Dabei rede ich nicht über herausragende Leistungen und überdurchschnittliche Fähigkeiten, sondern über die ganz normalen Grundfertigkeiten. Die Schüler, die vor mir sitzen, haben alle mindestens einen ganz normalen Hauptschulabschluss. Trotzdem befinden sich die Kenntnisse in Mathematik oder beim Lesen auf einem Niveau, bei dem es jeden Lehrer gruselt. Bei diesen Jugendlichen scheint die komplette Schulbildung quasi unbemerkt an ihnen vorübergezogen zu sein. Zudem musste ich bei meiner aktuellen Klasse feststellen, dass der Begriff »Hausaufgaben« so gut wie unbekannt war.
Die Schüler hatten zuvor niemals Hausaufgaben gemacht?
Niemals sicherlich nicht, aber in den letzten Jahren ihrer Schulkarriere offensichtlich kaum. Sie waren jedenfalls sehr erstaunt, als sie hörten, dass es so etwas gibt und dass ich nicht vorhatte, von dieser Anforderung abzurücken.
Schaffen Sie es, den nicht zur Verfügung stehenden Stoff nachzuholen?
Kaum. Denn das Problem dabei liegt ja auch auf zwei Ebenen. Zum einen ist da die reine Stofffülle, die theoretisch aufgeholt werden müsste. Ich frage manchmal nach Dingen, die in jedem Bundesland im Lehrplan für die siebten und achten Klassen stehen. Dann wirkt das für mich, als ob die Schüler von diesen Dingen noch nie etwas gehört hätten. Das können Sie unmöglich komplett nachholen und noch neuen Stoff unterrichten. Die zweite Problemebene ist die der Lernbereitschaft. Die ist nämlich kaum vorhanden. Viele Schüler demonstrieren offen ihre Unlust, zusätzlich habe ich bei der überwiegenden Zahl den Eindruck, dass Erklärungen überhaupt nicht ankommen. Es ist, als wenn ich mit einer Wand rede.
Was sagen die Schüler, wenn sie merken, dass es eng werden wird mit dem Abschluss?
Was sollen sie schon sagen? Die meisten verstehen ja gar nicht, wie brenzlig ihre Lage ist. Ich stehe regelmäßig kurz vor Ende eines Schuljahres vor Schülern, die fast nur Sechsernoten geschrieben haben und die mir im Brustton der Überzeugung sagen, sie würden den Abschluss schon noch schaffen. Die glauben das wirklich, sogar noch in dem Moment, in dem diese Möglichkeit auch faktisch überhaupt nicht mehr besteht. Nebenbei bemerkt sitzen zu dem Zeitpunkt, zu dem diese absurden Gespräche stattfinden, in der Regel auch schon längst nicht mehr alle anfangs gestarteten Schüler in der Klasse. Bei meiner letzten Klasse sind von vierundzwanzig gerade mal fünfzehn bis zum Ende dageblieben, davon haben ganze drei den Abschluss 10b geschafft. Auf der anderen Seite hatte ich aber zehn Schüler mit der Note »Fünf« oder »Sechs« in Mathe.
Was sagen die abgebenden Schulen zu dieser katastrophalen Bilanz?
Der Kontakt ist da recht mau. Ich würde mir im Grunde mehr Kommunikation wünschen, aber man hat fast das Gefühl, dass die einfach nur froh sind, die Schüler losgeworden zu sein, und dann nichts mehr davon hören möchten.
In Persönlichkeiten statt Tyrannen habe ich bereits ausführlich über solche und ähnliche Beispiele aus dem Bereich der Schnittstelle zwischen Schulausbildung und dem Übergang in die Arbeitswelt berichtet. Deshalb kann ich hier ergänzen, dass der Eindruck des Lehrers, die Schüler hätten noch nie von bestimmten Unterrichtsinhalten gehört, täuscht: Sie haben den Stoff in der Schule zwar gelernt, aber sie konnten ihn aufgrund ihrer fehlenden emotionalen und sozialen Reife nicht dauerhaft aufnehmen und abspeichern. Daher würde es auch nicht ausreichen, als allgemein pädagogische Reaktion einfach mit mehr Hausaufgaben oder
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