Soul Beach 1 - Frostiges Paradies (German Edition)
»Schlamassel ist leicht untertrieben, würde ich sagen.«
»Ich kann nicht lange reden, ich werde verfolgt.« Seine Stimme klingt schrill, nahe an der Hysterie. Früher war sie eher ein sanftes Brummen wie von einem intelligenten Braunbären.
»Wo bist du gerade?«
»In der Bibliothek. Wir … wir haben uns einschließen lassen, also, mit Absicht. Sie postieren immer einen Typen in unauffälliger Kleidung vor dem Eingang, wenn ich hier arbeite. Nach Feierabend, als ihnen klar wurde, dass sie mich nicht haben rauskommen sehen, dachten sie wahrscheinlich, ich hätte sie ausnahmsweise mal abgehängt. Aber die können ja Handys orten. Wenn sie auf die Idee kommen, dass ich das von Adrian benutze, wissen sie auf jeden Fall, dass ich noch hier bin.«
Mein Herz klopft ohrenbetäubend laut; es ist, als wäre ich plötzlich in Die Bourne Identität oder so katapultiert worden. »Aber was ist, wenn ihr den Alarm auslöst?«
»Wir sind in einem Lagerraum. Wir haben Taschenlampen, etwas zu essen und Wasser und für später auch noch was Stärkeres zu trinken. Morgen um neun macht die Bibliothek wieder auf und dann gehen wir einfach direkt in einen der Lesesäle. Niemand wird was merken.«
Ich sehe ihn vor mir. Tim, den guten Menschen. Den liebenswürdigen Kerl. Seine leuchtenden ehrlichen Augen mit den dunklen Ringen darunter, weil er ständig zu lange aufblieb, um zu lesen oder zu plaudern, und sein zaghaftes Lächeln, wenn er einen Witz machte.
»Und das alles nur, um mit mir zu reden?«
»Natürlich. Hör mal, Alice, ich weiß, für dich ist das Ganze noch schwerer als für mich. Es bedeutet mir wirklich viel, dass du überhaupt mit mir sprichst.«
»Es bedeutet gar nichts, weder in die eine noch in die andere Richtung«, unterbreche ich ihn, obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt. »Ich will einfach nur wissen, was an dem Abend damals wirklich passiert ist.«
»Oh.« Pause. »Ich habe sie nicht getötet. Es ist mir egal, was mit mir passiert, solange du mir glaubst, Alice.« Zum ersten Mal klingt er wieder wie der alte Tim, nicht wie ein überdrehter Möchtegern-Spezialagent.
»Versprichst du mir das?«
»Ich könnte nichts und niemanden töten, Alice. Was in aller Welt würde mir das Recht geben, jemandem das Leben zu nehmen?«
Diese Antwort ist so präzise, so typisch Tim, dass ich ihm unendlich gern glauben will. Aber was ist mit der Polizei und meiner Mum, von den Klatschblättern ganz zu schweigen? Ach, und Mr Bryants Statistiken, laut denen die meisten Frauen von ihren Partnern ermordet werden?
Und dann ist da noch Meggies eigene Aussage, dass Leidenschaft und Hass dicht beieinanderliegen. Ich bemühe mich, nicht mehr wie jemand zu denken, der ihn kennt, sondern wie der Rest der Welt. Vermutlich ist das hier meine einzige Chance überhaupt, ihn zu befragen.
»Aber warum ist die Polizei dann so überzeugt davon, dass du es getan hast?«
»Sie wollen die Sache schnell zu Ende bringen. Oder vielleicht ist es auch ein abgekartetes Spiel.«
»Ach, Tim, wer sollte sich denn die Mühe machen, dir so eine Falle zu stellen?«
»Der wahre Mörder. Alice, es ist doch ganz logisch, mir alles in die Schuhe zu schieben, weil die Polizei immer zuerst die Leute unter die Lupe nimmt, die dem Opfer am nächsten gestanden haben.«
»Und die, die es als Letzte lebendig gesehen haben!«, rufe ich.
»Ich war der Zweitletzte. Ich schwöre es.«
»Aber die Leute in der Bar haben gesehen, wie ihr euch gestritten habt.«
»Sich mit seiner Freundin zu streiten, heißt noch lange nicht, dass man sie auch gleich umbringt!« Der Zorn in Tims Stimme überrascht mich. So habe ich ihn noch nie reden hören.
»Du klingst wütend.«
»Natürlich bin ich wütend. Wie würdest du dich denn fühlen, wenn du den Menschen verloren hättest, der dir auf der ganzen Welt am meisten bedeutet, und dann auch noch jeder glaubt, du wärst der Mörder? Hm? Wie fändest du es, wenn jedes Mal, sobald du über die Straße gehst oder einen Hörsaal betrittst, alle anfangen würden zu flüstern und dich anzustarren, ohne dass dir jemand offen sagt, was er denkt? Wenn dir, wann immer du dich umsiehst, die Polizei auf den Fersen wäre und darauf lauert, dass du einen Fehler machst?«
Mittlerweile schreit er regelrecht und ich halte das Telefon ein Stück von meinem Ohr weg. Ich blinzele und muss mir in Erinnerung rufen, dass er eingeschlossen in Greenwich hockt und ich in meinem sicheren Zimmer. Der sanfte Tim, der sogar Spinnen das Leben rettet,
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