Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
möglichen Medikamente verschrieben, Papaverin, Laristin und wie sie alle heißen. Mademoiselle Garde holte sie für ihn, doch zunächst warf er sie zornig weg. Er glaubt einzig an die Macht der Milch, mit der göttlichen Zutat, dem Bismutpulver. Himmlische weiße Kuhmilch, das Mondlicht der Sumerer, einziger Saft, der das Leben schenkt. Einziger Strahl vom Himmelseuter.
Er will in derselben besetzten Zone bleiben, in der sich Paris befindet, nur ein paar Kartenabschnitte weiter unten sitzt er jetzt. Die Stadt ist sein Erdmittelpunkt, mochten die Besatzer nun auf ihr herumtrampeln, es gab sie noch. Geschändet, ja. Jeder fühlte es, der einen dieser fröhlichfrechen Trupps in ihren grauen Uniformwülsten auf den Gehsteigen kreuzte oder die Übermenschen auf dem Marsfeld brüllen hörte. In den Schächten und Gängen der Metro widerhallten ihre Geräusche, gewichste Knobelbecher im fühllosen Echo. Am auffallendsten dennoch eine gespenstische Stille. Wenige Wehrmachtsfahrzeuge auf den Straßen der Stadtleiche. Mattes, stumpfes, blindes Licht. Breitbeiniges Stehen auf dem Metroquai, breitärschiges siegerhaftes Sitzen in Vorortszügen. Das spöttische Heruntergleiten des Blicks auf den bleichen schlanken Beinen der jungen Frau gegenüber. Stadtleiche. Schweigen. Spuk. Die Besatzung ist unsichtbar und allgegenwärtig. Die schwarzen Monturen hinter den Türen von Doktor Knochens SIPO-SD in der Avenue Foch, die Gestapo residiert in der Rue Lauriston.
Irgendwann würde sie wieder dastehen, zwar voller Narben noch, gekrümmt von Verlusten, aber immer noch und schon wieder verzweifelt schön. Dann würden die Leinwände aus den Kellern hervorkommen und vom kurzen tausendjährigen Reich erzählen.
Es gibt dort keine Milch.
Und der Maler Chaim Soutine hofft, dass der ganze Spuk eines Morgens verschwinden wird. Vorbeigeht wie die Zeit des Magengeschwürs. Während viele die Mittelmeerhäfen zu erreichen versuchen oder auf allen vieren über die Pyrenäen kriechen, auf ein Visum warten, um in die USA, nach Palästina, Schanghai oder Südamerika zu entkommen, bleibt Soutine im grünvioletten Champigny versteckt, unweit der Loire und der Stadt Chinon. Von dort aus ist Paris auf Schleichwegen zu erreichen, dort gibt es noch Ärzte, die er kennt, es gibt das verwunschene, traurige Reich des Montparnasse, die Ateliers, Cafés, versprengte Maler, Händler, bei denen man Pinsel, Paletten, Tuben finden konnte. Wer fragt, zu welchen Preisen. Dort gibt es seine Farbe, seine Milch. Keinerlei Versuche, die Demarkationslinie nachts zu überschreiten. Von Buenos Aires oder Chicago aus wäre Paris auf einen anderen Stern gerückt. Warum soll er die Stadt, die 1913 das einzige Ziel seines Lebens war, so schnell wieder aufgeben? Und all die mit Kiko und Krem geteilten Träume in Minsk und Wilna von der Welthauptstadt der Malerei? Die Amerikaner kennen ihn bereits, im Dezember 35 findet im ARTS CLUB OF CHICAGO eine erste Ausstellung statt, PAINTINGS BY HAIM SOUTINE steht auf dem Plakat, vielleicht hätten sie ihn mit offenen Armen empfangen. Und der legendäre Doktor Barnes aus Merion, Pennsylvania, der 1923 wie ein pharmazeutischer grollender Gott in Zborowskis Wohnung getreten war – hatte der nicht mit Soutines Bildern die geheime Auswanderung vorbereitet? Ein Teil von ihm war längst in Philadelphia. War nicht jedes Bild ein farbiger Pass? Der Spuk wird vorbeigehen. Dann muss er da sein, für den Sprung zurück von der Loire an die Seine.
Es gibt dort keine Milch.
Es mangelt jetzt an allem. Die Transportwege sind unterbrochen, die Besatzer requirieren Lokomotiven, Waggons, Lastwagen. Kohle und Strom? Die Heizung ist auf vier Stunden pro Tag beschränkt, und manchmal ganz verboten. Sie leben von nichts. Rationierung ist das Leben, und es gibt nicht mehr, was auf den Lebensmittelkarten steht. Wunschkonzerte, die sie sich gegenseitig vorsingen. Ersatzkaffee aus Rübe und Zichorie. Zucker ist heilig und selten, der Ersatz regiert. Die Warteschlangen, die verkümmerten Öffnungszeiten.
Sie leben von Gemüsen, die sie widerwillig schätzen müssen. Wurzeln und Knollen mit exotischen Namen wie RUTABAGA und TOPINAMBUR quälen mit ihrem groben Geschmack. Schwedenkohl heißt die Knolle, bei der sie an den Nordpol denken. Kohlrübe, Gänsefuß, Erdbirne, Ersatzgemüse. Ein Bauer in Champigny, den sie in seinem Hof fluchen hören, als Marie-Berthe und er vorübergehen:
Ersticken werden sie uns, die Boches, ich kann es nicht mehr fressen, das
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