Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Herbst 40 und unweit der Villa Seurat sein, wo sie wohnten, nach dem Waffenstillstand und dem Inkrafttreten der Zweiteilung. Sie fragt:
Chaim, warum gehst du nicht in den Süden, in die freie Zone?
Seine Antwort kommt rasch, als bräuchte er nicht zu überlegen:
Es gibt dort keine Milch.
Hatte Marschall Pétain in Vichy alle Milch getrunken? Waren alle Kühe davongeflogen? Gab es nur welche in der besetzten Zone im Norden? Hatten sie keine Angst vor Panzerraupen und Seitenwagen, schwarzen Knobelbechern?
Er verehrt ihre animalische Wärme, ihren Euterschatz, ihre strömende besänftigende Milch, die gemischt mit Bismutpulver dem Schmerz in seinem Bauch eine Weile Ruhe schenkt. Und er hasst die Kühe, die Chagall damals, kaum angekommen im Bienenstock am Passage de Dantzig, in den Witebsker Himmel pinselte.
Was soll ich dort unten? Es gibt dort keine Milch.
Und Chana wendet sich kopfschüttelnd ab, wünscht ihm Glück, zieht sich Flügel über ihre kräftigen Bildhauerarme, sagt klar und deutlich »Ich werde eine Näherin in Jaffa sein«, schwebt hoch über der Villa Seurat und flüchtet mit ihrem Sohn in die Schweiz. Seine alten Freunde aus Minsk und Wilna haben, kaum waren die Ardennen durchstoßen, den Weg nach Süden angetreten. Kikoïne findet im Mai 40 in Toulouse bei seinem Sohn Yankel Unterschlupf. Krémègne geht in die weltabgeschiedene Corrèze, als wäre es auf den Mond, verdingt sich dort als Landarbeiter, um über den Krieg zu kommen. Soutine bleibt.
Es gibt dort keine Milch.
Am 3. September 1939, dem Tag von Frankreichs Kriegserklärung, waren er und Mademoiselle Garde im burgundischen Dorf Civry, dort ging er in den Dorfladen, suchte mürrisch nach den raschelnden Unglücksboten, die voll waren von schwarzen verschmierten Lettern: LA GUERRE! Doch der Krieg schien seinen Einsatz im Westen zu verschlafen. Sitzkrieg auf der Maginot-Linie, alles bleibt ruhig, auf den Festungswällen wird Karten gespielt, gejauchzt, geraucht. Nichts geschieht. Es gibt keinen Tag, an dem der Maler nicht hastig die Zeitung aufschlägt. Er misstraut der bedrohlichen Ruhe, jeder Ruhe. Der Krieg lässt sich Zeit und gibt sich erst dem FALL WEISS hin, als ob er Maler wäre. In Polen wird die künftige Beute geteilt mit Stalinland. Es gibt dort keine Milch. Der Krieg malt weiter, nach dem FALL WEISS folgt der FALL GELB, der Westfeldzug, am 10. Mai 1940. Jetzt wird aus dem Sitzkrieg Blitzkrieg. Der Sichelschnitt, die Kapitulation der Niederlande und Belgiens, der Vorstoß bis zur Kanalküste. Der Exodus beginnt, sieben Millionen Franzosen verlassen den Norden, flüchten mit ihren Habseligkeiten südwärts.
Es gibt dort keine Milch.
Die Maginot-Linie wird südlich umgangen, die deutschen Armeen fahren in die Lücke von Sedan, der Durchstoß durch die Ardennen am 14. Mai 40, das Heranrollen der Panzer, der Vorstoß ins Herz, das Pochen war von weither zu hören. Einen Monat später dringen die Raupen nach Paris vor, die Stadt wird kampflos besetzt. Schließlich der Waffenstillstand vom 22. Juni in Compiègne, der Beginn der Besatzungszeit.
Ein Glückspilz, wer sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht hat. Oder wer noch weiß, wohin er fliehen kann. Das Goldene Pariser Zeitalter ist vorbei. Henry Miller schon im Juni 39:
Das ist das Ende des langen Aufenthalts im französischen Paradies. Ich warte heute abend auf Hitlers berühmte Rede. Die ganze Welt sitzt auf ihrem Arsch und wartet auf Wunder.
Ab nach Griechenland, noch fünf Monate Europa durch die gierigen Nasenflügel einziehen, die Lungen mit Licht füllen, Homer eine Visite abstatten, Korfu grüßen, geharzten griechischen Wein trinken, Lebensstoff einsammeln wie eine Biene für den Koloss von Marussi, und dann ab nach Brooklyn, in die alte Heimat, die ihre gütigen Arme aufhält, um den Versprengten wieder ein sicherer Hafen zu sein. Genug Quinquina geschlürft und die kleinen Marcs, die Stouts und Mandarin-Citrons im Pariser Luxusexil. Genug
Amer Picon
. Genug sich ereifert im Salon der Gertrude Stein. Genug Picasso vor den Augen sprühen sehen. Goldene Jahre. Vorbei. Und mit aufreizender Langsamkeit rollen die Panzer hinein in die Stadt, die einmal Lichterstadt hieß, und löschen das Licht der Jahre.
Milch war alles für ihn. Seine Mahlzeiten bestehen fast nur noch aus Milch und Bismutpulver. Sie sollen die ausströmende Magensäure in Schach halten. Wo es Milch gibt, schöne weiße, schäumende, kann der Schmerz besänftigt werden. Die Ärzte haben ihm alle
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