Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Tageslicht zu tragen, das auf der Schwelle der Tür verblieb, waren schwer von einer wütend ausgebreiteten Materie …
Soutine konnte von einem Augenblick zum andern zurückkommen, und ich wollte um jeden Preis vermeiden, dass er mich hier überraschte; ich setzte dennoch die unheilvolle Ausgrabung fort, entsetzt über die Brutalität seiner Malerei und zugleich fasziniert von dieser schieren Gewalt, die mir für einen Augenblick sogar einflüsterte, dass ich sie verstehen könnte …
Ich verließ diese obszöne Höhle, nicht ohne einen letzten Blick auf ein grünes Etwas zu werfen, grüne Zypressen, die vom Wind verdreht waren, grüne Kugeln von Sträuchern, die in einen vom Sturm grünen Himmel aufwirbelten, mit Wolken, die jäh von einem Blitz erhellt wurden. Ich fand mit Erleichterung die Welt wieder, dieselben Zypressen, die jetzt so ruhig dastanden auf beiden Seiten der Landstraße. Während des ganzen Heimwegs schob eine erschreckende Vision derselben Natur sich über diese stille Nachmittagslandschaft, die Soutine den entfesselten Elementen ausgesetzt hatte … Höllenvisionen überblendeten die anmutige Wirklichkeit in diesem zauberhaften Städtchen des Südens …
Ich bog um eine Hecke und sah plötzlich, in etwa dreißig Metern Abstand, Soutine, mit dem mir zugewandten Rücken gegen einen Baum urinierend. Ich wich ohne jeden Laut zur Hecke zurück … Soutine knüpfte sich pfeifend den Hosenschlitz zu und kam in meine Richtung. Er war kurz davor, mich zu entdecken, als er plötzlich anhielt, sich mit beiden Händen an den Bauch fasste, sich krümmte, als würde er in zwei Teile zerbrechen … und ein langes Stöhnen ausstieß. Von Angst gepackt, rannte ich weg, ohne mich umzudrehen.
Welcher Wahnsinnige hat diese Bilder gemalt, rufen Leopold Zborowskis Kunden im Wohnzimmer an der Rue Joseph-Bara aus, und Paul Guillaume, dem Obergötzen, der die afrikanischen Statuen hortet, ergeht es in der Rue de Miromesnil nicht besser. Die möglichen Käufer flüchten auf die Straße, um nicht vom herabstürzenden, unsichtbar gewordenen Himmel zermalmt zu werden. Modigliani ruft jetzt betrunken aus: Alles tanzt vor meinen Augen wie eine Landschaft von Soutine. Und der Maler hört es noch. Und erschrickt nicht mehr.
Im kleinen Hof des Hotels Garreta in Céret steigt ein schwarzer Rauch auf. Er hat wieder Dutzende von Bildern verbrannt. Er muss sie aus der Welt schaffen. Und der Hass wird bleiben, er wird Händler suchen, die sie horten, kauft die eigenen Bilder aus der Zeit in Céret zurück, um sie mit dem Messer aufzuschlitzen. Verkauft ein neues Bild nur unter der Bedingung, dass man ihm zwei aus Céret herbeischafft, damit er sie zerstören kann. Arme Pyrenäen!
Jetzt liegt er im Leichenwagen, fährt noch einmal in die Pyrenäen von Paris, vorbei an den Landschaften, die sich jagen, durch Schlitze und hintere Luken hereinblitzen im Wettstreit mit seinen Bildern. Das Morphin hilft, die Augen durch das schwarze Blech hinausgleiten zu lassen auf die verwilderten Landschaften. Sie durchdringen seine geschlossenen Augenlider. Tag oder Nacht? Paris oder Pyrenäen? Er weiß es nicht mehr. Die zerstörten Bilder aus Céret, sie laufen neben dem Leichenwagen mit, wollen ihn einholen, sich rächen dafür, dass er sie mit Messer und Scheren zerfetzt hat, wo immer er noch welche aufspüren konnte. Der Morphinmessias fährt mit, und die Asche der Bilder aus Céret.
Milch & Bach
Es war einmal ein besetztes Land, das vorgab, nur halb besetzt zu sein. Der Süden hieß jetzt FREIE ZONE, auch NONO-ZONE, der besetzte Norden war O-ZONE. Die Demarkationslinie zwischen O und NONO konnte man nachts, mit guten Ortskenntnissen und Fluchthelfern überwinden. Aber deutsche BEKANNTMACHUNGEN und VERORDNUNGSBLÄTTER schwirren dort durch die französische Luft, überwacht vom Adler mit den langgestreckten Flügeln und dem zerhackten Kreuz in seinen Krallen. Sie drohen mit drakonischen Strafen für den illegalen Übertritt.
Im Juni 40 ist der zweifach gewellte Verlauf in der Zeitung abgebildet. Soutine fährt mit dem Fingernagel, der von den störrischen, nicht mehr zu beseitigenden Farbresten gerahmt ist, die Linie ab, die sich mit zwei Kamelbuckeln durchs Land zieht, vom Jura bis zu den Pyrenäen, von der Schweizer bis zur spanischen Grenze. Im Unterleib gibt es Vichy und seine Erlasse, Pétains Aufrufe, mit den Besatzern zu kollaborieren. Zum Wohle Frankreichs.
Chana Orloff, seine Nachbarin, trifft ihn auf der Straße. Es muss jetzt
Weitere Kostenlose Bücher