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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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Wege.
    Die Erde hat für ihn gebebt in den Pyrenäen. Dort herrscht eine Gefahr, die keiner benennen kann. Landschaft als Erdrutsch, Erdbebenluft leckend, tobende, epileptische Landschaft. Die Kruste, auf der wir leben, ist dünn. Der Magmastrom drängt herauf, die Lava will hervorstoßen. Die Bilder, die er jetzt in Céret malt, sind sein Dekor zum Jüngsten Gericht. Er ist ein brüllender Jeremias, der seine Farben in die Landschaft spuckt. Schleudertrauma. In der allerstillsten Landschaft.
    Er braucht sie, um sich abzustoßen von ihr. Aber was er mit ihr anrichtet, wie er sie zurichtet. Landschaftseingeweide, Gedärme, unvorhergesehene Windungen. Ob es einen Rückweg gibt? Natürlich nicht. Nichts ist wiedergutzumachen. Nichts, was ihm zustößt. Es ist immer noch alles da. Die auf immer verfluchte Kindheit. Der Hass auf die Pyrenäen. Die Wut auf die Bilder aus Céret, die ihn zu den Zerstörungsorgien anstachelt. Berichte eines Kampfes, Pinselhiebe, ein ihn schüttelnder, zuckender Krampf. Die Fingerbeeren scheuern durch den Erguss aus der Farbtube.
    Die Hügel von Céret.
    Wie spät ist es draußen, Marie-Berthe? Er möchte fragen und kann nicht. Nur Paris zählt und die Operation. Um vier Uhr morgens zieht er los, läuft über die Hügel, zwanzig Kilometer weit und mehr. Er sucht seinen Ort, eine bestimmte Stelle, von wo aus er einen Blick auf sein Leben wirft. Und mit der Landschaft streitet. Er ist unnahbar, spricht kein Wort, argwöhnisch, scheu. Lebt in einem verlassenen Schweinestall oder einem Geräteschuppen in den Weinbergen, ohne Licht, die Läden hat er vernagelt, wirft sich aufs zurückgelassene schmutzige Stroh, deckt sich mit seinen Leinwänden zu, rollt sich ein, als läge er schon im Leichenwagen. Er kommt völlig entkräftet zurück, vergisst zu essen, wäscht sich nicht, zieht seine gerippte Hose und das von grünen Schlieren und roten Tupfern fleckige Zeug nicht mehr aus. Der Stapel der Leinwände wird größer, und noch immer hat er keine Wahrheit nicht gefunden. Er muss weiter in der Landschaft wühlen. Drei Jahre Strafe. Keine Geduld, keine Erlösung.
    Die Hügel von Céret.
    Also trägt er den Orkan von Hügel zu Hügel. Hier war noch keiner. Keiner hat so etwas je gesehen. Nichts wiederzuerkennen. Aber alles noch da. Seine schlimmsten Feinde sind die neugierigen Spaziergänger. Jeder kennt sich aus mit der heiligen Ähnlichkeit. Kaum sieht er einen von ihnen auftauchen, klappt er die Staffelei zusammen, verzieht sich unter die Bäume, bis die Gefahr vorüber ist. Allein mit sich und der Landschaft, weitab von Museen, Moden, Montparnasse. Soutine rennt allein über die Hügel. Einsamer Läufer mit farbigem Gepäck. Und die Hügel lassen es geschehen. Er sieht sich rennen, noch jetzt. Er hat es eilig. Er muss zur Operation. Hier war noch keiner.
    Doch, es gibt einen Beobachter. Einen kleinen Neider vom Montparnasse. Emile Bourrachon alias Justin Francœur alias wie immer er heißt, der seine Entdeckung herumreicht. Er stellt ihm nach wie einem seltenen schmutzigen Tier. Er nähert sich dem Stall, blickt sich mehrmals um. Dass Soutine tagsüber dort nicht anzutreffen ist, weiß jeder. Dass er über die Hügel hastet, malt, wieder abbricht, weiterläuft.
    Je weiter ich eindrang in die dunkle und feuchte Schwärze, die säuerlich roch von Schweiß und tierischen Ausdünstungen, und mich entfernte vom Lichttrapez, das die Sonne von der Eingangstür ausschnitt und auf den staubigen Boden warf, desto weniger zweifelte ich an meinem ersten Eindruck: Soutine war ein Vieh! Ich machte ein Streichholz an, suchte nach irgendeiner Lampe oder Kerze, die dieses böse Dunkel hätte zurückweichen lassen …
    Im zitternden Schein sah ich zwei Stapel aus dem Stroh hervorragen, das auf dem festgetretenen Lehmboden lag. Ein Stapel geordnet mit aufgezogenen Leinwänden in verschiedenen Maßen, deren weggedrehte Vorderseite offenbar bemalt war, der andere ein wirrer Haufen abgeschabter oder jungfräulicher Leinwände, in die der Rohling sich wahrscheinlich einrollte, um zu schlafen. Ich drehte eine Leinwand nach der andern vom ersten Stapel um und besuchte in diesem albtraumhaften Museum die Windungen eines Gehirns, dessen Zeugungstrieb alle Regeln der Kunst umstürzen. Wie soll ich mit Worten diesen Ausfluss von Gewalt beschreiben, der dick wie das Blut war, das aus der Halsschlagader des Stieropfers strömte, um die Waffenbrüder Mithras zu salben? …
    Und die Leinwände, die ich aufhob, um sie ans

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