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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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Sängerin unterzukriechen, deren Stolz ihre Sammlung ist. Wenn die schwarze Scheibe bis auf das lästige Kratzgeräusch am Ende nichts mehr von sich gibt, hebt er Arm und Nadel und setzt sie am dicken Rand wieder auf.
    Bach und Milch, nichts anderes. Tagelang. Die Musik aus dem Land der Einäugigen und die Milch aus dem Land der Zukunft. Die großen fetten schwarzen Scheiben, immer wieder auf den drehenden Teller gelegt, und die bittere, rationierte Milch. Und wieder war sie da, diese unglaubliche Musik, die mit solcher Bestimmtheit vor sich hinsprach, als ob es nichts anderes gäbe, als könnte sie alles zum Schweigen bringen, jede Panzerraupe, jedes Stiefelgeräusch. Alles, bis auf den Punkt in seinem Magen. Dieser Punkt will keine Musik hören. Aber das Versteck mit den schweren schwarzen Scheiben ist dennoch eine glückliche Fügung.
    Jede Kantate ein Pfeil gegen die schwarzen Motorräder und rasselnden Raupen, wirkungslose, abprallende Geschosse, aber sein einziger Trost. Und er stellt sich vor, dass diese Musik noch klingen wird, wenn von dem andern nur ein Haufen rostender Schrott übrigbleiben wird.
    Lasst Satan wüten, rasen, krachen.
    Aber die Zeile, die dem Satan folgt: Der starke Gott wird uns unüberwindlich machen! Und aus dem Grammophon dringen Worte, von denen er manchmal einige versteht.
    Wir waren schon zu tief gesunken, der Abgrund schluckt uns völlig ein!
    Nur zu verstehen, dass die brüllenden Besatzer und diese Musik aus demselben Land, von denselben Flüssen kommen, das schafft er nicht. Es sind dieselben Ohren. Die Stimmen kommen aus jenem Land. Hört Doktor Knochen nie Bach?
    Seht, seht, wie reißt, wie bricht, wie fällt, was Gottes starker Arm nicht hält!
    Und er horcht die Musik auf alles ab, was irgendeinen Funken Leben geben, die Verzweiflung bezwingen könnte. Aber: Wie zweifelhaftig ist mein Hoffen, wie wanket mein geängstigt Herz. Henry Miller, sein Nachbar in der Villa Seurat, wollte ihm vor dem Krieg immer wieder amerikanische Jazz-Platten leihen. Er lässt nicht nach.
    Bitte, Monsieur Soutine, sagen Sie mir, was Sie haben möchten, ich habe eine schöne kleine Sammlung oben. Sie können sich alles anhören, wenn Sie möchten. Amerika ist da oben, die schwarzen, schwitzenden Zauberer mit den goldenen Instrumenten.
    Soutine lehnt dankend ab. Es gibt für ihn keine andere Musik. Bach. Und Schluss. Bach war wie Milch. Und Bismutpulver.
    Und in Clichy bei dem merkwürdigen Arzt, der ihm eine Spritze gab, als er auf dem Gehsteig zusammengebrochen war, sprachen sie auch über Musik. Der Arzt sagt:
    Die deutsche Musik finde ich provinziell, schwerfällig, grob!
    Und der Maler:
    Aber Bach ist wunderbar! Kantate 106, auf dem Klavier gespielt von Wanda Landowska!
    Lange Tage ohne Malerei. Nichts als Milch und Bach. Auf die Matratze hingestreckt, den Blick zur Zimmerdecke. Versteckt mit Bach. Wer weiß, wie nahe mir mein Ende. Und manchmal, nach diesen stundenlangen schwarzen Scheiben, summt er etwas aus der fernen Kindheit. Es war das einzige, was er behalten wollte, die paar Lieder, die er trällerte, während er alles vergessen wollte, was mit Smilowitschi verbunden war. Aber das Kälbchen musste bleiben.
    Wenn Olga nach Hause kommt, fragt er sie aus über Bach, sie muss ihm alles erzählen, was sie über ihn weiß. Dass er mit neun Jahren die Mutter verlor, mit vierzehn Vollwaise war. Neben ihm starben seine Geschwister weg, eins nach dem andern, und drei der sieben Kinder, die er mit Maria Barbara hatte, starben kurz nach der Geburt, sieben von den dreizehn Kindern, die Anna Magdalena ihm schenkte, musste er mit seiner eigenen Musik zu Grabe tragen, nachdem sie bereits fröhliche, auf einem Bein hüpfende, Himmel und Hölle spielende, den Herrgott rühmende Geschöpfe gewesen waren. Und Gott wollte noch immer gerühmt werden. In Wahrheit saß der Tod immer mit am Tisch, folgte ihm auf die Empore, überallhin, setzte sich mit ihm an die Orgel.
    Soutine sträubt sich gegen eine unwillkürliche Erinnerung, er muss an die elf Kinder von Sarah und Solomon denken, von denen er das vorletzte war. Er sah Bachs Kinder immer wieder hochfliegen zu ihrem erbarmungslosen Gott, den der Vater zu preisen hatte. Olga sagte:
    Bach war der am engsten vom Tod umzingelte Komponist der Welt. Der Tod betrachtete sich selbstherrlich als Familienmitglied. Bach lebte unter nicht nachlassender Besatzung. Vom Tod seiner ersten Frau Maria Barbara erfuhr er bei der Rückkehr von seiner Dienstreise nach Karlsbad.

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