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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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und sich zuprosten:
    Er hat es geglaubt … Ha, ha, ha … er hat es tatsächlich geglaubt!
    Aber an dem Morgen fühlt er tatsächlich keinen Schmerz, er tastet danach, doch da ist nichts. Er weiß nur mit trauriger Bestimmtheit, dass es kein Abschied für immer ist. Er ärgert sich, dass er in letzter Zeit die Besatzung mit seinem Magengeschwür verknüpfte. Als ob die Boches das Geschwür mitgebracht hätten. Er weiß zu genau, dass die Schmerzen im Bauch schon angefangen hatten, als Modigliani noch lebte, er hatte sie immer gespürt, in den Pyrenäen und in der Provence, in Céret und Cagnes und Vence, in den luftigen Sommermonaten in der Nähe von Chartres. Das Magengeschwür hielt ihn schon so lange besetzt, auch damals, als noch keiner von der OCCUPATION etwas ahnte.
    Aber die Besatzer sind noch im Land, seit wenigen Wochen sogar überall. Am 8. November 42 landen die Amerikaner in Nordafrika, die Wehrmacht stößt in der Operation Attila bis zum Mittelmeer hinunter, die schwarzen Marionetten in Vichy haben nichts mehr zu melden, es gibt keine Demarkationslinie mehr, die der Maler überschreiten könnte. Das Versteck auf dem Land in der Nähe der Loire ist sein grünes Gefängnis.
    Es gibt dort keine Milch.
    Sie hatten über
Radio Londres
von der Landung in Nordafrika gehört. Und sie freuen sich nicht allzusehr, der Krieg macht skeptisch. Aber nur ein paar Wochen später, im Januar 43, meldet BBC, die Eingekesselten in Stalingrad hätten kapituliert. War nicht wenigstens das ein Zeichen, dem man vertrauen konnte?
    Wird die Zeit der Verstecke ein Ende haben? Die Verwilderung, die alles mitnimmt. Der 21. Januar 42. Auf der Straße herumirrend Marie-Berthe, vor einem Hauseingang des Boulevard Raspail, vollkommen verwahrlost, vor Kälte schlotternd. Sie muss noch schnell bei einer Bekannten ein paar Kartoffeln für Soutine holen. Dann die fünf Treppen hinauf in der Rue Littré, wo Marie-Berthes Vater wohnt, der alte Aurenche. Unbeschreibliche Unordnung. Gebrauchtes Geschirr von mehreren Tagen. Ausgekämmte Haare, Zigarettenstummel auf dem Boden, Asche, Wollflausen, verstreuter Unrat. Das Bett ist nicht gemacht, der verschmutzte Boden seit einer Ewigkeit nicht gekehrt. In einem eisernen Becken glimmen einige Briketts. Aber kaum einen Meter weg ist das Zimmer eisig. Der Mangel überzieht den bürgerlichen Komfort mit einer Eisschicht, verhaucht Bitterkeit.
    Soutine taut erst auf, als er mit dankbarer Freude erzählt, dass er beim letzten Mal in jenem Dorf eine Landschaft mit Schweinen gemalt habe. Verzückt von der fabelhaften, unbeengten Unreinheit des Tieres. Ein junger französischer Arzt tritt ein, verabreicht ihm eine Spritze, damit das Magengeschwür eine Weile Ruhe gibt. Er spricht mit ruhiger Stimme von den Verheerungen der Besatzung, die er jeden Tag antrifft, den zerfallenden Körpern, dem Ungeziefer, den Spuren des Mangels. Alles schrumpft.
    Dann schlagen plötzlich die Türen. Der alte Aurenche tritt auf. Ein Gewitter entlädt sich, Flüche und Verwünschungen, Tritte gegen die Tür. Was für ein Schweinestall hier, könnt ihr nicht mal euren Dreck wegräumen? Der alte Aurenche hat genug. Er wirft sie hinaus. Sie werden wiederkommen, bettelnd, um Obdach bittend.
    Es ist gefährlich geworden, in der Villa Seurat zu wohnen. Die Notwendigkeit, immer wieder die Unterkünfte zu wechseln. Aber es gibt nur wenige. Eines Nachts, im Frühjahr 41, führt Ma-Be ihn zu ihren alten Freunden in die Rue des Plantes, wo sie früher mit Max gewohnt hat, zu Marcel Laloë und seiner Frau, der Sängerin Olga Luchaire. Das abgerissene Paar steht plötzlich vor der Tür, Ma-Be macht ein seltsames Fingerzeichen, bittet stumm um Einlass. Kaum im Innern der Wohnung angekommen, keucht sie:
    Ihr müsst ihn verstecken, er wird von der Gestapo gesucht.
    Ma-Be braucht nicht viel zu erklären, eine Sprungfedermatratze wird in ein Nebenzimmer geworfen, ein Floß in diesem Strom von Unglück, das nicht mehr aufhören will. Eine Matratze. Sonst nichts. Er malt nicht mehr. Alles reißt ihm den Pinsel aus der Hand, verschwört sich mit der Schmerzfaust, die in seinem Magen wühlt. Alles verbündet sich, um ihn daran zu hindern: Schmerz und Krämpfe, die Besatzer und ihre entwürdigenden Anordnungen. Sie leben drei Monate in der Rue des Plantes, Soutine trinkt Milch mit Bismutpulver und hört Bach, alle Platten, die Olga besitzt, alle. Matthäus-Passion, Kantaten ohne Ende, Goldberg-Variationen, Kunst der Fuge, alles. Ein Glück, bei einer

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