Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Zeug. Ersticken werden sie uns damit.
Und er schleudert eine dieser Knollen wütend zu Boden, wo sie wie eine fleischige Granate zerbirst. Krieg ist Gemüse. Als er die beiden vor dem Hoftor vorbeihuschen sieht, erschrickt er und verstummt. Die zerschlagene Rutabaga riecht nach Sabotage. Tauschgeschäfte, Diebstähle in jedem Dorf. Glücklich, wer einen Kaninchenstall hat. Aber wie er ihn bewachen muss. Tag und Nacht muss er vor dem Kaninchenstall liegen.
Und Soutine denkt an die Hasen, Fasane und Truthähne, die er an der Rue du Saint-Gothard und in Le Blanc gemalt hat, das Drama ihres Todes, ihr abgezogenes Fell, ihre schillernden Federn, Reste von Blut. Der farbige Triumph ihres Todes, die Blautöne im schwarzen Gefieder, Smaragdgrün. Und er denkt an die Hungerjahre im Bienenstock, die Heringe mit den hungrigen Gabeln. Welche üppigen, weit entfernten Mahlzeiten!
Immer wieder die Anfälle, die krümmenden, spuckenden, rasenden. Ein Tagebuch des Schmerzes. Wer zählt die Atemzüge. Der Schmerz hat ein Spiel mit ihm getrieben, ihn verhöhnt. Manchmal dauert er an während Stunden, verschwindet dann ganz plötzlich, und der Maler preist die Milch und das Bismutpulver, streicht sich über den Bauch und dankt ihm. Glaub nicht, dass du mich so schnell loswirst.
Und einmal, es ist schon in Champigny, glaubt er, dass die Besatzer verschwunden seien und mit ihnen der bohrende Schmerz im Bauch. Plötzlich Ruhe, nicht einmal die abziehenden Panzer waren in der Nacht zu hören gewesen, keine rasselnden Raupen, keine aufheulenden Motoren, keine gellenden Befehle, nichts. Die Besatzer hatten sich über Nacht in Luft aufgelöst. Es lag eine ungeheure Stille über der seltsam fremd wirkenden Stadt, die nur Paris sein konnte. Die Wegweiser in deutscher Sprache waren abmontiert, kein ORTSLAZARETT mehr, kein WEHRWIRTSCHAFTS-RÜSTUNGSSTAB, keine Wortungetüme wie INSTANDSETZUNGSWERKSTÄTTEN, keine Gestapo in der Rue Lauriston, kein Doktor Knochen in der Avenue Foch, keine exerzierenden Brüllaffen auf dem Marsfeld, kein deutsches Wort mehr in den Straßen zu hören. Nichts als Stille über der Stadt.
Und Soutine springt auf und aus dem Bett, versteht plötzlich alles, läuft von der Villa Seurat die Rue de la Tombe-Issoire hinunter, links hoch bis zur Kirche bei Alésia, dann Denfert-Rochereau mit dem staunenden Löwen und weiter bis zur Kreuzung bei der
Closerie des Lilas
. Das Laufen fällt ihm unendlich leicht, er wundert sich, wie er so schnell eine solche Distanz überwinden kann, kein Seitenstecher, kein Keuchen, nichts. Dann links ab und hinunter zum Montparnasse, wo alle Cafés voll sind, die Rotonde, das Dôme, die Coupole, bis auf den letzten Platz sind sie gefüllt, aber da ist diese unglaubliche Stille. Keine klirrenden Gläser, keine durcheinanderrufenden Stimmen, keine hastenden Kellner. Sie sind still wie Kirchen. In ihnen sitzen die alten Bekannten, auch Modigliani sitzt da mit einem Glas Gin (auch er? die Träumer wundern sich am meisten), und Kikoïne und Krémègne, Lipchitz, Zadkine, Kisling. Alle sehen Soutine verwundert an, zeigen mit dem Finger auf ihn und rufen:
Wir wissen es schon. Warum hast du dich nicht früher gemeldet?
Und Soutine ist verwirrt. Sollte er der letzte sein, der es erfahren hat? Er greift sich vorsichtig an den Bauch und merkt: Auch der schmerzende Magen war weg. Die Besatzer scheinen ihn mitgenommen zu haben, er war auf dem Rückzug, hatte sich über Nacht aus dem Staub gemacht, der Krieg war gewonnen, und es gab keinen Schmerz mehr. Das Leben konnte endlich beginnen.
Als Soutine aufwacht, schläft Ma-Be noch neben ihm, zart schnarchend im wackeligen Bett, und er ärgert sich über den Traum. Immer hat er schlechte Träume gehabt, Träume voller Vorwürfe, prügelnder Brüder, Träume voller Scham, Ungenügen und Zweifel, von verschwundenem Malzeug und dem Zwang, mit den Fingerbeeren weiterzumalen, Träume von einstürzenden Ateliers, die ganz aus Eisen und Glas waren, von Bränden im Bienenstock.
Und jetzt dieser prächtige leichte Dauerlauf von der Villa Seurat bis zum Montparnasse – albern war er, völlig unglaubhaft, er hätte es ahnen sollen. Er ärgert sich, dass er dem Traum geglaubt hat, ist wütend auf die Maler in den Cafés, die angeblich alles schon wussten, vermutlich auch, dass es ein falscher, trügerischer Traum war.
Und dann, schon völlig im Wachzustand, sieht er die Maler vor sich, wie sie sich die Bäuche halten vor Lachen, mit ihren Fingern auf ihn zeigen
Weitere Kostenlose Bücher