Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Sie lag bereits auf dem Friedhof. Er lief weinend hinaus auf den Gottesacker. Er war also wieder dagewesen. Ich habe genug, lässt er singen, und: Ich elender Mensch. Und Soutine kann sich nicht satthören, lauscht mit offenem Mund.
Ach! dieser süße Trost … erquickt auch nur mein Herz … das sonst in Ach und Schmerz … sein ewig Leiden findet … und sich als wie ein Wurm … in seinem Blute windet … ich muss als wie ein Schaf … bei tausend rauhen Wölfen leben … ich bin ein recht verlassnes Lamm … und muss mich ihrer Wut … und Grausamkeit ergeben …
Aber die Tage waren endlos für den Versteckten. Ein Matratzengefängnis. Ein Leben unter den tausend Wölfen auf den Pariser Straßen. Peinigend das Gefühl, anderen zur Last zu fallen, Platz einzunehmen, mochten sie noch so geduldig sein. Träge dazuliegen, nicht zu malen. Drei Monate lang konnte er nur nachts manchmal hinaus. Wenn Marc den Hund spazieren führte, glitt er hinter ihm lautlos an der Loge des Concierge vorbei auf die nächtliche Pariser Straße. Endlich Luft, Sperrstundenluft. Niemand zu sehen. Sie gingen nahe an den Toreinfahrten und Eingängen vorbei, immer bereit, einen Schritt hinüber zu tun auf die dunkle Innenseite, falls ihnen jemand auf der Straße entgegenkäme.
Oh, die Macht der Concierges! Ein großes Auge, dem nichts Fremdes entgeht, ein feines Ohr für Echos und Schritte. Alles hörten sie, alles sahen sie, jede Maus, die in die Toreinfahrt trippelte, wurde gestellt. Die Berufsehre verlangte, nichts zu übersehen, was am Hauseingang vor sich ging, den ganzen Verkehr genau im Blick zu haben. Der Hausmeister wird misstrauisch.
Haben Sie einen Gast bei sich, Monsieur Laloë?
Ja, ein Cousin aus dem Norden ist da, er fährt schon morgen weiter.
Seit dem großen Exodus im Mai 40, der von den Stukas gelöcherten Flucht aus dem Norden, als sieben Millionen mit ihren Kocheimern und Matratzen sich auf den Weg machten, mochte es als Ausrede durchgehen. Und alle Himmelsrichtungen führten über Paris. Doch dem Auge entging nichts. Jedesmal, wenn die falschen Cousins spätabends mit dem Hund hinausglitten und wenig später zurückkamen, schlug der Concierge den großen Vorhang an der verglasten Loge mit einem scharfen Schwung zurück und musterte die Rückkehrer. Er wollte sie spüren lassen, dass er Witterung aufgenommen hatte, kein Staubfädchen konnte ins Haus dringen ohne sein Mitwissen. Hausfremde Personen müssen registriert, die Angaben der Polizei überbracht werden, die sie andernorts vorzulegen hatte.
Es kann so nicht weitergehen, der seltsam fremd aussehende Cousin muss verschwinden. In ein Gebiet, wo es Bauern gibt, Korbflechter, Böttcher, Schmiede und Wirte, aber keine Concierges. Im Sommer 41 fahren sie unauffällig ins Tal der Loire. Die Laloës schreiben an einen Freund, Fernand Moulin, den Tierarzt und starrköpfigen Bürgermeister von Richelieu bei Chinon. Der übernimmt es, die beiden Untergetauchten zu verstecken. Er lässt falsche Papiere für sie ausstellen, mit Stempeln der Präfektur in Tours, und empfiehlt ihnen, nach Champigny-sur-Veude zu gehen, ein Dorf in der Nähe, und dort ein Zimmer zu mieten.
Madame Coquerit mustert die Fremden von oben bis unten. Solche kommen jetzt öfter hier an, seit der Norden besetzt ist. Sie mag den Akzent nicht, mit dem der Herr spricht. Sie sind zu schmutzig, ein verlaustes Paar, was haben diese Pariser Clochards hier auf dem Land zu suchen? Und Ma-Be versteht es, Streit anzuzetteln. Sechsmal wechseln sie die Unterkunft.
Er macht sich noch einmal ans Malen, mit Farben, die Marc ihm zukommen lässt. Die verblüfften Bauern sehen morgens ein Gespenst über die Straßen und Feldwege huschen, gekrümmt und mit langen Schritten, als ob es gälte, dem Schmerz zu entkommen. Er drückt sich an den Hauswänden von Champigny vorbei, das schmutzige Hemd nur teilweise eingesteckt in die zerrissene Hose. Er trägt eine mit Reißzwecken auf einem Brett festgemachte Leinwand unter dem Arm, er wird Bäume malen, immerzu Bäume, und einige Kinder aus dem Dorf. Er stöhnt: Das Land ist hier viel zu flach, die Bäume viel zu gerade, ich brauche krumme, verzweigte, zerschrundene. Aufschießende Gassen, Hügel- und Bergstädtchen, wie damals in Céret und Cagnes. Aber wenigstens beginnt er wieder zu malen.
An Weihnachten 42 kommen die Laloës sie besuchen in Champigny, im neuen Versteck, wo es keine Schallplatten von Bach mehr gibt. Er freut sich auf Olga, bittet sie immer wieder,
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