Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
für sich, Minsk und Wilna und die Stadt der Städte, wo sich die Malerei eingenistet hat in allen Falten und Schneisen, auf den Boulevards und in Gässchen. Überall lebende Gemälde, keine Rückkehr ins Niegemalte. Das Dorf war Schmutz und Pogrom, Angst und Zittern. In allen Bildern will er sich von diesem Smilowitschi befreien, jeder Pinselstrich will es wegstreichen aus dem Gedächtnis.
Wo ist er jetzt, warum muss gerade jetzt das Dorf der Kindheit zu ihm herein in den Leichenwagen? Pyrenäen, Paris, und dann der Fluss Wolma, der Landstrich um die Beresina, die sich an die verwesenden Franzosen im Frühlingsschlamm erinnert. Er ist das Prügelkind der Familie, der lebendige Sack, den man schlägt und tritt, das zehnte und vorletzte Kind seiner Mutter Sarah, die müde ist von allen Geburten. Wie abwesend schwebt sie durch die Räume, verrichtet ihre Dinge wie ein Geist. Sie schweigt. Immer voller Sorgen, zu erschöpft, ihnen zärtlich etwas zuzuflüstern, wie er es bei andern Müttern gesehen hat. Er ist das zehnte von elf Kindern, hören Sie, Doktor Bog, der vorletzte von allen. Einer hat uns die Hungermeister genannt. Der Zehnte und Vorletzte. Teilen Sie eine Liebe durch zwölf, guter Rebbe. Sie heißt Sarah. Sie sagt nichts mehr.
Seine erste Erinnerung. Er liegt noch in der Wiege, sieht das Spiel von Licht und Schatten auf der Wand, wie sie zittern und sich abwechseln, auf dem Weiß tanzen. Er schaut, wie das Licht der Sonne und der Schatten sich in den unbewegten staubigen Vorhängen verfangen …
Er will es Ma-Be erzählen, oder Mademoiselle Garde, oder einer dritten Gestalt, die kurz im Leichenwagen aufgetaucht war, und die er nicht erkennen konnte. Er lallt und winkt sie mit der Hand her ganz nah an seinen Mund. Neig dein kühles Ohr.
Das Haus liegt am Markt, und im unteren Fenster, wenn das Wetter es erlaubt, sitzt sein Vater Solomon, der Flickschneider, wie ein Buddha mit gekreuzten Beinen. Am Fenster, wo es mehr Licht gibt für die Stiche, wo der feine Faden aufsteigt und an den Fingern des Vaters niederstürzt in den Stoff eines Kaftans. Er summt, sticht und zieht, das Leben ist sein Faden. Er näht mit mechanischen Bewegungen, dann hält er ein und dreht eine Seite um, ohne die Augen zu heben … Rabbi Menachem Mendel aus Worki behauptet, ein wahrer Jude müsse drei Dinge können: eine perfekte Kniebeuge, einen stimmlosen Schrei, einen Tanz ohne Bewegung. Die Kunden kommen vom Markt und werfen ihm die Hosen hin. Russen, Polen, Tataren, aus dem Dörfchen am andern Ufer.
Wenn sie von den Pogromen hören, die im Zarenreich aufflammen und rasend durch die Schtetl laufen, wissen sie, dass es nur einen Funken braucht, und die Federbetten werden zerfetzt und durchwühlt, die Schubladen herausgekippt, die Kehlen durchschnitten … Sie sehen das Blut vor sich, das auf die Federn spritzt. Sie zucken zusammen bei Namen wie Kischinjow, Gomel, Schitomir, Berditschew, Nowgorod, Nikolajew, Odessa. Nachts rasseln ihre grässlichen Namen durch ihre Träume. Nach 1905 kommen immer mehr Namen hinzu, nach dem Blutsonntag dröhnen die Parolen der Schwarzhunderter:
Bejte schidow! Schlachtet die Jidden!
Chagall irrt, wenn er glaubt, sie seien nur des grauen Rauchs und der schmutzigen Schuhe wegen weggefahren, um die Farben zu suchen. Nur weg, kein Golem mehr, keine Totengeister, die sich einen lebendigen Leib suchen, um ihn und seine Stimme zu bewohnen, keine Dybbuks aus den unheimlichen Geschichten der Kindheit, nur ein paar Lieder summen, aber nur als Beweis, wie weit es schon entfernt ist, wie eine spöttische Mahnung, dass jene Welt verschwunden ist. Doch immer wieder malt er Kinder, das dumpfe Elend der Kindheit, wo alles nichts ist als ein trübes Versprechen, das nie mehr eingehalten wird. Greisengesichter, grobe Riesenhände, die sich ans verrenkte Spielzeug festklammern auf niedrigen Stühlchen.
Niemand kennt den Weg. Keiner wird ihn je erfahren. Niemand kann wissen, wer der Mann im Leichenwagen ist. Es gibt nur die Bilder, nur jene, die er nicht zerfetzt und zu Asche verbrannt hat. Niemand kennt ihn. Keiner kann ihn zum Reden bringen, schon gar nicht über die Kindheit. Sollen die Bilder reden, wenn sie mögen. Niemand kennt ihn. Es gibt nur eine einzige Erinnerung an die Kindheit.
Ich hab einmal gesehen … wie der Neffe des Rebbe einer Gans … den Hals durchschnitt … und das Blut ausfließen ließ … ich wollte schreien … aber sein fröhliches Gesicht … schnürte mir die Kehle zu … diesen
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