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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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Kantaten für ihn zu singen. Er hört wieder Bach aus ihrer Stimme. Selig ist die Freude des Wiedererkennens. Ein halbes Jahr später wird er losfahren von Chinon, ein gekrümmter Embryo in einem Leichenwagen, langsam fahrende schwarze Gebärmutter, und keiner kennt den Ausgang. Kein Bach mehr, ihn zu begleiten. Nur Sertürners Mohnsaft.
    Man kann dort nicht leben, es gibt dort keine Milch.

Buch der Richter
    Ist es Ma-Be, die im Dunkel neben ihm sitzt und mit dem weißen Tuch auf seine Stirn tupft? Manchmal verzweifelt einnickend, dann hochfahrend und die Augen weit aufgerissen, als ob man sie aus dem Schlaf herbeigeschrien hätte, als ob Schlaf etwas Ungehöriges sei, wenn man eine lebendige Leiche nach Paris begleitet zur Operation. Ihr weißes Gesicht wird von dunklen Streifen überzogen. Straßenlichter? Tageslicht? Unkenntlich ist das Gesicht in diesem falschen Licht, durchschnitten von dunklen Ästen.
    Seine Augen zittern, die Wimpern scheinen die Bewegung der grauen gewellten Vorgänge aufzunehmen, ihm kommt es plötzlich vor, es sei ein anderer Begleiter, der im Leichenwagen neben ihm sitzt, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Er sitzt leicht erhöht, wie auf einer Holzkiste oder einem Schemel. Der Maler hat das Gesicht schon gesehen, es ist weit weg in der Kindheit. Unmöglich. Kann es sein? Es ist der alte Rebbe, der murmelt, mit der Hand durch das falsche Licht wedelt wie eine bittere Marionette. Sein lückenhaftes Gebiss ist zu sehen, die Kiefer, die sich zuerst stimmlos mehrmals öffnen und wieder schließen, als suche er ein Wort.
    Nein, Chaim.
    Und er schüttelt missbilligend den Kopf.
    Nein, und wieder: Nein.
    Soutine kennt alle Vorwürfe, hat sie oft in seinen Träumen gehört in Minsk und in Wilna und sogar noch in Paris, als er dem Dorf längst entflogen war. Überall die gleiche erhobene Stimme, die Vorhaltungen, abgespult wie ein altes Gebet, das längst in Fleisch und Knochen übergegangen war. Aber diesmal wirkt der Alte noch aufgebrachter, alles schien seiner Entrüstung rechtzugeben. Es ist zu spät für Vergebung.
    Ich habe es dir immer gesagt. Du wolltest nicht hören, hast dich aus dem Staub gemacht, bist weggerannt von uns. Es wird schlimm enden mit dir, Chaim. Jetzt fährst du zu
seinem
Gericht, der Namenlose wird wissen, dass du nicht auf deinen Vater gehört hast, nicht auf die Mutter und deine Brüder, nicht auf mich. Malen soll nicht sein. Es ist für die Götzenanbeter, die sich berauschen an den bunten Statuen Baals und deren schmutzigen Farben. Es beleidigt das Auge, was schmierst du uns Farben ins Gesicht. ER hat uns aus bloßem Lehm gemacht, nur er, und uns das Leben eingehaucht.
    Nur das Wort wollte er zulassen, nur das Wort. Das
Pirke Avot
weiß es, Chaim. Mit zehn Worten wurde die Welt erschaffen. Und dann fragt es uns: Warum zehn, wo es doch möglich gewesen wäre, sie mit
einem
zu schaffen? Einzig das Wort erschafft die Welt, Chaim. Dein Pinsel verschmiert die Welt zu Fratzen und Verhöhnungen
seiner
Schöpfung. Siehst du nicht, wie du alles verkrümmt und verzerrt hast, Landschaften und Menschen, wie alles zittert und wankt, als habe der Schmerz in deinem Bauch gemalt und nicht du? Als habe der Schmerz die Welt geschaffen und nicht das ruhige Auge des Schöpfers und sein Wort. Als habe ein beleidigendes Magengeschwür die Welt erschaffen! Die Schöpfung will nicht gemalt sein, Chaim, wozu denn, die Schöpfung ist am Ende der Woche da, in sechs Tagen geschaffen und mit dem Schabbes gekrönt, mit der Ruhe des Namenlosen, damit er sie mit Wohlgefallen betrachte. Hast du das Gebot vergessen? Das Wichtigste vergessen, alles vergessen? Du sollst dir kein gegrabenes Bildnis … noch irgend ein Gleichnis machen … weder von dem, was im Himmel droben … noch von dem, was auf Erden hienieden … noch von dem, was in den Wassern unter der Erde ist …
    Ist das deinem Ohr so fremd, willst du gar nichts mehr von alledem wissen?
    Dass ihr euch nicht verderbet … und euch irgend ein gehauenes … oder gegrabenes Bild machet … irgend ein Gleichnis … es sei eines Mannes oder Weibes … oder Viehes auf Erden … oder geflügelter Vögel … welche unter dem Himmel fliegen … oder des Gewürms auf dem Land … oder der Fische im Wasser unter der Erde …
    Und der Alte mahlt mit seinen Kiefern das Korn der Worte, duckt sich und reckt den Kopf empor ins falsche Licht und ist ein einziger Vorwurf. Der Maler aber hört den Rebbe noch eine Weile seufzen und mahnen, doch

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