Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
scheint sich der kleine Körper zu entfernen, er scheint zu schrumpfen, sich mit den Falten der Vorhänge des Leichenwagens zu vereinigen. Aber fast im nächsten Moment kommt er wieder näher, seine Bewegungen werden weicher, fast weiblich, er wird zu einer Frau. Der Maler erkennt sie nicht. Es hätten mehrere Frauen sein können, Garde, Ma-Be, oder wer? Er erkennt sie nicht. Es ist keine von ihnen.
Was suchst du hier im Wagen, wer hat dich hergebracht? Und warum fährst du mit? Ich muss zur Operation, weißt du das nicht.
Er will ein Wort sagen und bringt kein Wort hervor. Aber die Frau bleibt stumm, nickt nur, und wendet ihren Blick ab. Dann streicht sie mit den Fingern über seinen Arm, wie Lannegrace, ein winziger Blitz fährt herein in den Leichenwagen, die Besänftigung tritt ein. Der Maler grummelt vor sich hin, als habe er Brot zwischen den Zähnen, als kaute er mit einem zahnlosen Mund. Sie träufelt ihm den Mohnsaft unter die Zunge. Der Schmerz dämmert weg in seinem Bauch.
Die Vorhaltungen des Rebbe hat er hundertfach gehört in seinen Träumen, hat wirre, unverständliche Ausflüchte gestammelt, Bezalel in der Wüste ins Spiel gebracht, aber nicht ein einziges Mal versucht, von seinen Bildern zu sprechen, kein Wort. Er hat nie auf seine Leinwände gezeigt, nie versucht zu erklären, warum es so kommen musste, warum er nicht anders konnte. Er hat die Bilder umgedreht, gegen die Wand gestellt, ihren Blick weggewandt, damit keiner sie sehen konnte. Nichts erklärt. In keinem Brief. Mit keinem Wort. Es gibt keine Erklärung für solche Bilder, verstehen Sie? Es gilt das Bild und nur das Bild. Und das Wort gilt, aber es muss verschwiegen werden. Moses ist enttäuscht. Soutine der Schweiger, so wird er heißen in der Welt des Montparnasse.
Muet comme une carpe
, stumm wie ein Karpfen.
Er hört jetzt plötzlich Henry Miller sprechen mit seinem amerikanischsten Französisch, der sein Nachbar war in der Villa Seurat.
Ich erinnere mich, dass ich Soutine 1931 zum ersten Mal begegnet bin. Es gab da diesen Typen Louis Atlas, einen New Yorker Geschäftsmann, der mit Pelzen handelte und der mich als Neger und Ghostwriter engagiert hatte, um eine Artikelreihe über berühmte Juden in Paris zu schreiben. Er zahlte mir fünfundzwanzig Francs pro Artikel, der unter seinem Namen in den jüdischen Magazinen New Yorks erschien. Und ich konnte schließlich in einem Café Soutines Bekanntschaft machen. Ich fragte ihn für meinen Artikel aus, seine Freunde antworteten für ihn, er selber sagte während des ganzen Gesprächs nicht ein einziges Wort, saß nur gedankenverloren und in den Qualm seiner Zigarette gehüllt da …
Smilowitschi ist Teer. In der Erinnerung wird immer Teer hergestellt. Die Kindheit ist ein Schtetl mit zerfallenden fauligen Hütten, wackeligen Bretterwegen, stickigem Staub und glucksendem Matsch, je nach Jahreszeit. Hustende Kinder und Hunger. In seiner Erinnerung bleibt es ein grauer Ort, ein schmutziges Loch. Der Himmel bedeckt, grau vor Rauch. Chagall wird es gestikulierend in die Runde rufen:
Die Farben dort sind wie die Schuhe derer, die dort leben. Wir alle sind wegen dieser Farbe weggegangen.
Es hieß Smilowitschi, es lag ein paar Kilometer vor Minsk, und der Maler will nur eins: es vergessen. Als er 1913 im Bienenstock am Passage de Dantzig landet, wo Chagall bereits angekommen ist und von seiner Witebsker Kindheit träumt, gerät er in grobe Wut. Chagall hat sein Schtetl nach Paris mitgeschleppt, alle Häuser, alle Tiere, den Rebbe, den Schojchet und den Brautwerber, den Mohel, das Sägewerk und die Pferdehändler. Alles, was Soutine glaubt zurückgelassen zu haben, findet er an einem grauen Pariser Tag – ja, auch dort konnten die Tage grau sein – in voller Farbenpracht in Chagalls Bienenwabe vor seinen Augen. Der hört das Gebrüll in den nahen Schlachthöfen von Vaugirard und versetzt die Kühe mit dem Pinsel an den Witebsker Himmel. Der Krieg bricht aus, Chagall fährt zurück nach Russland, um am selben Himmel seine Verlobte Bella zu heiraten. Nichts kann Soutine, der ausspucken will auf seiner Bahre, dorthin zurücktreiben. Kein Weltkrieg. Nichts.
Nur den Kindheitsort in sich löschen, kein Krümel, kein Strohhalm, kein Rauch soll auf die Leinwand gerettet werden. Das Nichts der Kindheit aus dem Gedächtnis brennen. Die Leinwand der Kindheit verfeuern. Die Demütigung, überhaupt eine Kindheit zu haben in dieser Verkleinerungsform der Stadt, die keine war. Nur die Städte will er
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