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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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in der Rue de la Montagne Sainte-Geneviève Nummer 4.
    Tausende von Bewegungen werden unnütz sein, viele Notizen von vornherein unbrauchbar, aber irgendwann wird so ein Zettelchen herausfallen, das nur auf sie gewartet zu haben scheint, sich heuchlerisch lange versteckt gehalten hatte. Es kann ein Spitzelbrief sein, eine Aufenthaltsgenehmigung, die säuberlich hinterlassene Spur einer simplen bürokratischen Maßnahme. Oder ein Suchbefehl aus der deutschen Botschaft an der Rue de Lille.
    Soutine ahnt nichts von den Umtrieben, aber Sertürners Mohnsaft weiß, wer Armand Merle ist. Der Maler hört von einem Nachbarn aus der Villa Seurat, den er zufällig beim Verlassen des Zuges im Bahnhof Montparnasse kreuzt, dass mehrmals französische Beamte in Zivil aufgetaucht waren.
    Donnerstag 10. Dezember 1942, 16 Uhr 30. Ermittlung über die gesuchte Person Soutine Chaim,
artiste-peintre
, wohnhaft 18 rue Villa Seurat, Paris 14. Wir haben uns am 2. Dezember im Laufe des Nachmittags an die oben erwähnte Adresse begeben. Laut Aussagen der Nachbarn, die wir befragt haben, ist Monsieur Soutine seit Ende Frühjahr oder Sommer vorigen Jahres an dieser Adresse nicht wieder aufgetaucht. Die aufgenommenen Aussagen ergeben keine neuen Anhaltspunkte bezüglich des aktuellen Aufenthaltsortes von Monsieur Soutine.
    In der Villa Seurat hatte nur Henry Miller ein paar Packen Papier hinterlassen und ein paar Briefe. Sollen die Nazis sich den Arsch damit abwischen, hatte er seinem Nachbarn Delteil zugeraunt, bevor er sich noch vor Kriegsausbruch aus dem Staub machte.
    Alle suchen einen Maler.
    Zeugenvernehmung in der Gestapo-Dienststelle in Chartres, 21. April 1943. Zweite Vernehmung der Madeleine Castaing, wohnhaft in Lèves bei Chartres im Falle des Verfahrens gegen Chaim Soutine. In Anwesenheit des SS-Hauptsturmführers Uwe Lorenz, Kommandeur des Sicherheitspolizei-SD-Kommandos Chartres, des Dolmetschers Jean-Yves Meyer und der Typistin Frau Ingrid Elster. Über die Konsequenzen einer Falschaussage wurde mit ihr gesprochen.
    Er wohnt noch immer in der Villa Seurat, im Winter aber, da das Atelier nicht beheizbar ist, in einem kleinen Hotelzimmer in der Avenue d’Orléans, wo er seine Tage verbringt, bei geschlossenen Vorhängen, schwitzend unter einem Regenmantel, auf dem Bett liegend, den Blick zur Decke. Er setzt keinen Fuß mehr vor die Tür. Sein Magengeschwür lässt ihn nicht mehr schlafen. Er spricht abgehackt, vom Schmerz gekrümmt …
    Können Sie uns den Namen des Hotels nennen, die genaue Adresse?
    Aber nein, es gibt da so viele kleine Hotels, wissen Sie.
    Er wechselte dauernd seinen Schlafort. Seine Freunde rieten ihm, in die Freie Zone zu gehen, aber er lehnte ab. Er hat einige Zeit bei Freunden gewohnt und Paris im Juni 41 verlassen. Ich habe ihn seither nicht wiedergesehen.
    Nicht einmal bei Ihnen zu Hause?
    Mein Haus wurde von der Wehrmacht requiriert. Wie sollte ich Gäste bei mir aufnehmen können?
    Geschlossen: um 13.30 Uhr. SS-Hauptsturmführer Uwe Lorenz.
    Selbst gelesen, genehmigt und unterschrieben: Madeleine Castaing.
    Sie log und musste lügen. Ein Maler macht sich unsichtbar, sie können noch so lange suchen, sie finden ihn nicht. Nicht die Besatzer, nicht ihre Gehilfen. Sie lassen Nachbarn und Bekannte verhören, Kommissar Merle trägt die Aussagen wie winzige Krümel zusammen, nichts Brauchbares darunter. Soutine hat sich in Luft aufgelöst, er ist endgültig unsichtbar geworden. Wer ihn jetzt noch sehen kann, muss gute Augen haben.
    Soutine fährt im Leichenwagen versteckt Richtung Paris, sein ganzes Leben führt dorthin, immer dorthin. Von Minsk und Wilna dorthin. Von Céret und den Pyrenäen dorthin. Von Cagnes und Vence – immer zurück nach Paris, als sei die Stadt der ewige Magnet, dessen Anziehungskraft er nicht mehr entrinnen kann. Als Merkmal der Bilder aus Cagnes taucht ein winzig kleiner Fußgänger auf, kaum erkennbar, der auf verdrehten Wegen schwankend seinem Unheil entgegenläuft, immer hinauf ans Ziel, auf der ewigen ansteigenden Straße dorthin, wo das Nichts oder Gott und das weiße Paradies warten. Die rote Treppe in Cagnes! Auch sie führt bereits
dort
hinauf.
    Er fährt in einem schwarzen Leichenwagen, Marke Citroën, Modell Corbillard, nach Paris. Fährt er zum Sterben? Aber nein, der Mohnsaft verscheucht den Gedanken. Er fährt in das Land der Milch. Er fährt in die Zukunft, die nicht eintreten wird. Er fährt ins weiße Paradies. Er soll noch nicht aufwachen, solange die von Sertürner

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