Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
erfundene Mohnschrift voranläuft, der Mohnsaft der Literatur … Er soll betäubt bleiben, keinen Schmerz empfinden.
Bing! Die erste nur ihm gewidmete Ausstellung von Juni 27 blitzt auf vor seinen Augen, er sieht die Bilder hängen, in der Galerie Bing. Ja, bei Bing. Die erste. Seit Barnes’ Auftauchen 1923, als der Pharmazeut seine Bilder in einem Rausch zusammenraffte und die Dollarnoten ins Atelier streute, weiß der Montparnasse alias die Welt, was der Name Soutine bedeutet. Er gilt als gemachter Mann, unwiderruflich am Ziel. Was für ein Triumph. Endlich angekommen.
Angekommen – wo? Die Leute in der Galerie werden nervös. Der Maler ist unsichtbar. Ein Mensch tänzelt durch die Menge, die ihm verwundert nachblickt. Er geht hinaus auf den Gehsteig, hält verzweifelt Ausschau in alle Richtungen.
Wo ist Soutine? Die Vernissage fängt gleich an, aber er ist nicht da? Die Leute dicht gedrängt, kaum ein Blick auf die Bilder zu erhaschen. Und er kommt nicht? Versteckt sich irgendwo. Oder streunt er durchs Viertel, schaut sich von fern die Menschengrüppchen an, die zu Bing hineindrängen? Einer läuft in Panik in sein Atelier, hinunter zum Parc Montsouris nahe der Peripherie. Kein Soutine weit und breit. Er ist nicht da. Er kommt nicht. Er ist unsichtbar.
Auch jetzt will der auf die Pritsche hingekrümmte Maler nicht auftauchen. Der Tod hält Vernissage, der Maler wird erwartet. Doch Soutine will nicht erscheinen. Bing geht leer aus. Den eigenen Tod schwänzen, boykottieren. Die Morphintinktur flüstert es ihm ein: Du bleibst versteckt, du rollst unbekannt weiter. Nur nicht aufwachen. Soll die Betäubung ewig dauern. Soll der Tod seine eigenen Bilder anglotzen. Vernissage hin oder her – ein Maler verschwindet. Und will unsichtbar bleiben.
Er liegt im Hotel an der Avenue d’Orléans 25. Die abgelebten Vorhänge sind gezogen. Er liegt schwitzend in seinem Regenmantel auf dem Bett, zieht ihn nicht mehr aus. Er trägt seinen blauen Hut. Liegt auf dem Bett und starrt an die Decke. Tagelang. Die Villa Seurat ist zu gefährlich geworden. Er setzt keinen Fuß mehr vor die Tür. Untertauchen. Er liegt im düsteren Hotelzimmer an der Avenue d’Orléans. Er fährt unerkannt im Leichenwagen zur Operation nach Paris. Er liegt auf einer weißen Bahre in der Klinik des Doktor Bog. Er ist zurück im weißen Paradies.
Doktor Bog
Sind Tage vergangen, Stunden, Minuten? Sekundentage? Wochenminuten? Die Zeit spielt schon lange keine Rolle mehr. Er liegt ganz ruhig, atmet regelmäßig, die Hände auf das weiße Laken gelegt. Das Licht im Zimmer ist blendend weiß, er hat seit seiner Ankunft keinen Wechsel von Tag und Nacht wahrgenommen. Die Klappe an der weißen Tür wird leise hochgeschoben, wieder beobachtet ihn ein Augenpaar aufmerksam. Ein rundes, regloses Gesicht. Doch dann wir die Klinke sanft gedrückt, und ein weißgekleideter, untersetzter Mann tritt ein.
Der Maler hat die Augen geschlossen, doch ihm scheint, er könne durch die Augenlider hindurch das Gesicht sehen, wie vordem durch das schwarze Blech des Citroën die Landschaften nördlich der Loire. Sein Blick hatte sich selbständig gemacht und war nach draußen geglitten. Wie damals, als er auf der Grenelle-Brücke stand und zur Winterradrennbahn hinüberblickte, die in der Zukunft vor seinen Augen in die Luft flog.
Es muss ein Arzt sein, so ganz in Weiß gekleidet. Bestimmt ist es der Chef. Gut genährt, rundlich, jetzt in Kriegszeiten. Er rückt das feine, weiß verblendete Gestell seiner Brille zurecht und stellt sich mit leiser, nicht unfreundlicher Stimme vor, wobei ein melancholisches, einsames Zucken aus seinen Lippenwinkeln huscht:
Bog. Mein Name ist Doktor Bog. Lieber Subin, ich darf Sie doch so nennen?
Ich heiße Soutine, Chaim … nein, Charles. Hier sind meine Papiere, wo sind sie, hier … bitte …
Und er beginnt, mit den Händen zu beiden Seiten seines Körpers unter dem weißen Laken nach den falschen Ausweispapieren zu suchen, die ihm Fernand Moulin, Tierarzt und Bürgermeister von Richelieu, bei der Präfektur in Tours hat abstempeln lassen. Sie bleiben unauffindbar, und der Maler ist zum ersten Mal verwirrt.
Wir wollen es hier nicht auf einen winzig kleinen Buchstaben ankommen lassen. Namen spielen an diesem Ort keine Rolle. Wir haben hier nur Fälle. Nicht einmal ich habe einen, auch wenn sie mich im Notfall Doktor Bog nennen. Also, lieber Sutinchaim. Bleiben Sie ruhig hier im Bett liegen. Entspannen Sie sich. Ganz ruhig …
Der Maler
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