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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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lächelnden Gott lässt ihn noch immer nicht los. Schließlich reckt er den Hals hoch und starrt auf ein merkwürdiges Viereck, das der Apparat ihm vorhält, schaut und schreckt zurück. Mit dem linken Ellenbogen reißt er einen ganzen Behälter weißer Schreibstifte mit, die mit einem zischelnden Geräusch zu Boden fallen.
    Lange dachte man, fährt Doktor Bog fort, dass kein Bakterium in der Magensäure – tausendmal saurer als Zitronensäure! – überleben könne. Und jetzt werden Sie staunen: Dieser kleine Kerl aus dem Ghetto hat es geschafft. Ein schraubenförmiges, helikal gewundenes Bakterium, etwa sechs tausendstel Millimeter lang und einen halben tausendstel Millimeter dick, mit zwei bis sieben Geißelfäden an einem Ende. Man nimmt an, dass die Spiralform samt Geißeln einen Überlebensvorteil bietet, damit er sich rasch – stellen Sie sich eine Art Außenbordmotor vor – durch die für ihn tödliche Magensäure bewegen kann, um sich in der Magenschleimschicht und in den Magenzellen aufzuhalten, wo er das Enzym Urease bildet.
    Enzym Urease? Der Maler denkt an das merkwürdige Russisch, das die Bewohner des Tatarendörfchens auf dem Smilowitschi gegenüber liegenden Ufer der Wolma sprachen. Die letzten versprengten Abkömmlinge der Goldenen Horde.
    Dieses wiederum spaltet Harnstoff, wobei Ammoniak entsteht, das im Gegensatz zur Säure stark basisch ist. Der Helicobacter pylori umgibt sich quasi mit einer basischen Wolke, die ihn gegen die Säurezersetzung schützt. Ziemlich raffiniert, nicht wahr, Monsieur Sutinchaim?
    Der Maler sieht noch immer entgeistert das Stäbchen mit den Geißeln vor sich.
    Gleichzeitig bildet er ein Toxin, einen Giftstoff, der zusammen mit dem Ammoniak die Magenzellen so schädigt und verändert, dass sie vermehrt Säure produzieren. Die Magenschleimhaut entzündet sich durch dieses Mehr an Säure und ist dadurch zusätzlich in Gefahr, wiederum von Säure angegriffen zu werden. Der Magen produziert also etwas, was ihm selber zum Verhängnis wird. Genau wie Ihre Künstlerfreunde am Montparnasse. So entstand Ihr famoses Ulcus ventriculi, lieber Herr Maler. Vergessen Sie nicht: dank Spiralform und Geißeln!
    Und was ist … mit meinem … besonderen … Magengeschwür? möchte der Maler scheu fragen.
    Nichts Besonderes, antwortet Doktor Bog schon fast gelangweilt. Wissen Sie, wir haben hier lieber ganz seltene Krankheiten, sie interessieren uns einfach mehr. Epidermolysis bullosa, Systemischer Lupus erythematodes, Porphyria cutanea tarda, Tako Tsubo Kardiomyopathie – solche Dinge bringen uns in Ekstase. Lieber Sutinchaim, Sie haben doch nur ein banales Magengeschwür, nichts Exquisites. Seit sechzigtausend Jahren lebt unser Helicobacter in den Mägen der Menschen, und doch hat er sich so lange so gut versteckt. Man hat ihn nämlich erst 1983 entdeckt, stellen Sie sich das vor. Die Mägen der Hälfte der Menschheit bieten dem Bakterium Asyl, die Hälfte der Krone der Schöpfung ist längst infiziert! In Ländern mit mangelhaften hygienischen Verhältnissen sogar neunzig Prozent! Neunzig Prozent!
    Der Maler ist verwirrt. Seit sechzigtausend Jahren? Und dann 1983? Eine verrückte Jahreszahl.
    Sagen Ihnen die Namen Barry Marshall und John Robin Warren etwas?
    Nein, sagt der Patient, ich kenne El Greco, Tintoretto, Rembrandt. Oder sind die beiden auch Maler?
    Doktor Bog überhört die Frage.
    Jetzt zur Übertragung, werter Sutinchaim. Wir wissen es nicht so genau. Fäkal-oral, oral-oral oder gar gastrooral.
    Der orgelnde Gott in Weiß genießt die Reihung dieser Laute, er kann nicht genug davon bekommen, wiederholt sie gern noch einmal und stößt seinen Zeigefinger in drei verschiedene Richtungen.
    Also via Ausscheidungen und Wiederaufnahme über verschmutztes Wasser oder Essen. Denkbar auch durch infizierten Magenschleim bei Erbrechen – verstehen Sie? Sogar Schmeißfliegen werden in Betracht gezogen.
    Jetzt sieht der Maler Schwärme von schwarzgrünen Schmeißfliegen, ganz Europa war voll davon, von Norwegen bis nach Italien.
    Sie hatten oft ein Völlegefühl wie nach einem zu üppigen Essen, was für eine prächtige Ironie Ihnen das Schicksal da beschert hat! Dass Sie im Leben oft gehungert haben, wissen wir genau, es steht in Ihrer Karteikarte. Das Druckgefühl im Oberbauch, Übelkeit bis zum Erbrechen, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, saures Aufstoßen. Und dann natürlich der bohrende und brennende Schmerz, den Sie gewiss zur Genüge kennen, in der Mitte Ihres Oberbauches.

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