Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
leiernden Gesang, den er verzückt und angeekelt von seinen Lippen stößt. Modiglianis Mund ist voll von Maldoror. Immer wieder hält er Soutine vor, was er alles nicht gelesen hat, er zwingt ihn zu lesen.
Wie frei Modi ist, wenn er rezitiert. Wie frei von allem Schmerz, wenn er nichts ist als seine Stimme. Seine Zunge leckt am ewigen Salzstock. Opium und Poesie. Baudelaire heilt seine Tuberkulose für Minuten. Wie losgelöst von allem, wie herrlich in seinem verkörperten Schmerz. Chaim sitzt gebannt von den krächzenden Grimassen auf der Matratze am Boden und schaut zum tobenden Modi auf, wenn er den Lobgesang auf die Laus herausbrüllt.
O Tochter des Schmutzes! … O Schmutz, König der Weltreiche … bewahre den Augen meines Hasses das Schauspiel … deiner ausgehungerten Brut …
Er sitzt wie festgenagelt, versteht kaum etwas, aber was er versteht, jagt ihm Angst ein. Woher diese Freiheit, wie kann Modi die Schriften seiner Herkunft in diesen giftigen Litaneien verhöhnen, Thora und Talmud, all die Bücherlast der Väter? Die Gesänge des Maldoror waren seine Bibel, mit der er die steineichenalten, bärtigen italienischen Rabbis in Livorno und in der eigenen Sippe erschreckte. Sie halten sich die Ohren zu.
Noch jetzt im Leichenwagen, der ihn ins weiße Paradies tragen wird, fühlt sich Soutine schuldig und verflucht, weil er diesem betrunkenen Prediger aus Livorno sein überwältigtes Ohr geschenkt hat. Modi wusste nicht mehr, wer er war. Er fordert ihn zum Trinken auf, er befiehlt ihm, berauscht zu sein, befiehlt ihm, endlich Bücher zu lesen.
Berauscht euch! schrie ihm Baudelaire ins Ohr. Und er musste gehorchen, den Schrei weitertragen.
Dante scherbelt er laut und gestikulierend auf den Montparnasse-Boulevard, dass die Passanten erschreckt zur Seite weichen, und Baudelaire saugt er mit verzerrten Lippen aus wie eine Zitrusfrucht. Der Tod der Liebenden!
La mort des amants!
So tief und weich, als ob es Gräber wären, lass unsere duftend leichten Betten sein.
Nur wenn er Dantes Inferno rezitiert, mit Schmerzensschreien der Verdammten, ist er noch giftiger, noch überzeugender. Der dreizehnte Gesang! Wenn sie den Blutstrom überschritten haben und zum Wald der Selbstmörder gelangen, die zu wilden Sträuchern verwandelt sind, gezaust von den Harpyien, röchelt er und stöhnt, dass der Zuhörer zusammenzuckt:
Warum fügst du mir Schmerzen zu? jault Modigliani durch die Cité Falguière.
Der Jenseitsreisende reißt einen Zweig ab, aus dem Blut hervorströmt, und eine Stimme bricht aus dem Strauch, Pier della Vignas verwundete Seele schreit:
Warum zerreißt du mich? Hast du gar kein Mitleid mit mir? Wir waren Menschen, nun sind wir Gestrüpp.
Und Modi krächzt, krümmt sich in seinem nur halb inszenierten tuberkulösen Schmerz. Worte und Blut quillen aus dem Astbruch. Modi ist selber der abgerissene Zweig, er ist die gepeinigte Stimme des Selbstmörders. Er ist Dantes blutende Lunge. Er ist die Tuberkulose des Weltalls. Und Soutine hat seine Augen weit aufgerissen, sitzt auf der von Wanzen belagerten Matratze und beißt sich in den Ärmel. Dante krächzt wild in Richtung seiner schmerzenden Magenwand. Modi ist sein eigener König, der König von Livorno. Er braucht keinen, aber den.
Modis Schamlosigkeit. Er malt öffentlich, wie er öffentlich liebt. Wenn er getrunken hat, zieht er sich aus und zeigt seinen göttlichen Körper den englischen Ladys, die sich entsetzt abwenden. Und wie schamlos er seine nackten Göttinnen malt, die ihre Brüste dem Betrachter anbieten, ihre Schenkel, ihr dunkles wirres Dreieck. Die scheuen Verkäuferinnen und Provinzlerinnen, die in die Hauptstadt kamen, ihr Glück zu finden, und die er mit sicherer Routine ins Atelier abschleppte und auszog. Antonia, Adrienne, Rosa, Louise, Victoria, Marguerite, Almaisa, Lolotte – nichts blieb von ihnen, nur ihre Pose auf seinen Leinwänden, nur ihr hübsches Gesicht und ihr nackter Körper auf Sofas und Liegen. Ihre blendenden Brüste, schwarzen Wäldchen, ihr rufendes Geschlecht.
Jeder erinnerte sich an Modis erste Ausstellung und den Skandal, den die Bilder auslösten. Er lebte bei Zbo und Hanka nach dem Bruch mit Barbara Hastings. Malt im Wohnzimmer, Zbo besorgt Farben, Pinsel, Alkohol und Modelle. Lass ihn nur machen, überlass ihn dem Rausch. Die Nackten folgen sich 1917 in einer fiebrigen Reihe. Er lässt das straffe Fleisch sich dehnen, runden, prahlen mit seiner rosigen schamlosen Nacktheit. Zbo organisiert die Ausstellung
Weitere Kostenlose Bücher