Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Keine Narbe. Wie waren sie in ihn eingedrungen? Ohne Spuren zu hinterlassen? Er fühlt sich leicht. Hat der Gott in Weiß nicht gesagt: Betrachten Sie sich vorsichtshalber als geheilt. Geheilt! Ein merkwürdiger Zustand. Ein schmerzloses Gefühl von verblüffender Leichtigkeit. Zweifelhaft, zögernd, paradiesisch.
Der Schmerz war einmal wie ein zweiter Puls gewesen, er hatte nach ihm getastet, ihn mit den Fingern abgehört, ihn verflucht. Der Schmerz hatte zu ihm gehört wie sein Atem, sein Schweiß, wie seine Körpersäfte. Zu sagen, er vermisse ihn jetzt, wäre nicht das Richtige.
Vermisst nicht, wie sollte er, aber es ist jetzt ein Etwas nicht mehr da, das zu ihm gehört hatte wie ein Organ, ein Körperglied, eine bohrende Empfindung. Er fühlt sich amputiert, vom Schmerz amputiert. Aber das scheint ihm so widersinnig, dass er sich verbietet, darüber nachzudenken. Einmal glaubt er ganz kurz, er sei noch da, aber es ist eine Täuschung. Da war nichts mehr. Sein Magen war schmerzlos abwesend. Und er denkt noch an Doktor Livornos merkwürdiges Auftreten und sein leidenschaftsloses Rezitieren, das so ganz anders war als damals, als Modigliani dem Malerkollegen Chaim Soutine wie besessen Lautréamonts Laus-Episode und Dantes Wald der Selbstmörder rezitierte. Jetzt war er so seltsam abgeklärt gewesen.
Und griff den Hiob an mit bösen Geschwüren … von seiner Fußsohle an … bis auf seinen Scheitel … also dass er eine Scherbe nahm … sich damit zu kratzen … und in der Asche saß …
Der Maler hat die Augen geschlossen und stellt sich weiterhin verbissen schlafend. Doktor Livorno aber will in seinen Ohren nicht mehr aufhören. Er psalmodiert still und versonnen in die weiße Farbe hinein.
Finster seien die Sterne ihrer Dämmerung … sie warte auf das Licht … und es komme nicht … sie sehe auch die Streifen … der Morgenröte nimmermehr!
Modi und die fliegende Frau
Halt, nicht springen! Nicht springen! Nicht springen!
Der Maler will es herausschreien, sich von der Pritsche erheben, doch Marie-Berthes Hand drängt ihn sanft zurück und wendet das weiche Tuch auf seiner Stirn auf die andere Seite.
Bleib ruhig, keiner will aus dem fahrenden Auto springen …
Nicht Auto, aus dem Fenster, die Frau da oben, du musst sie zurückhalten …
Ma-Be erkennt den Traum wieder, von dem er ihr oft erzählt hat. Und sie wundert sich jedes Mal:
Warum nur siehst du immer Frauen aus dem Fenster springen?
Nicht Frauen, eine Frau … Jeanne.
Soutine sieht plötzlich, als der Leichenwagen über ein Straßenloch auf einer dieser endlosen Landstraßen rollt und ein Ruck durch den Wagen fährt, eine junge Frau, die sich aus dem Fenster im fünften Stock stürzt. Es ist die Rue Amyot, er weiß es genau, und doch nicht dort. Anderswo, aber die Bewegung ist immer die gleiche. Sie steigt auf das Fensterbord, ihren Rücken der Straße zugewandt, dann macht sie einen Schritt rückwärts. Diesen Schritt sieht er immer wieder, und sein entsetzter Blick hinauf und sein Schrei schaffen es nicht, ihn aufzuwecken. Der Morphinmessias wird auf dem Gehsteig der Rue Amyot anhalten und hinaufrufen:
Halt! Nicht springen! Nicht springen!
Doch er kann noch so lange die Hand ausstrecken, die Frau ist nicht mehr aufzuhalten und prallt mit einem trockenen Geräusch auf die Pflastersteine. Keiner hört die splitternden Knochen, keiner sieht das Blut aus ihrem Mund rinnen. Es ist keiner mehr da. Die Rue Amyot ist völlig leer.
Warum tut sie das, murmelt der Maler, und Ma-Be versteht nicht.
Doch, er hatte einen Freund, den unwahrscheinlichsten der ganzen verwahrlosten Horde. Amedeo! Im Kriegsjahr 1915. Amedeo. Ein italienischer Liebling der Götter, dem dieselben mit elf die Rippenfellentzündung, mit vierzehn Typhus und ein Fieberdelirium von über einem Monat, das ihn zwischen Leben und Tod pendeln ließ, und mit sechzehn die Tuberkulose und Bluthusten schickten? Bei dem Namen. Götterliebling? Zynische Götter für Modi le Maudit. Modi der Verfluchte. Dem Soutine später nicht verzeihen kann, dass er ihn in seine Räusche mitriss. Verfluchter Alkohol, der die tödliche Säure seiner Magenwand noch anstachelte.
Keiner hätte es voraussehen können. Modi und Chaim. Der Alleweltverführer, der Blender und verkleidete Aristokrat, nimmt zwischen zwei Räuschen und der großen Rage den scheuen schmatzenden Schweiger unter seine Fittiche. Monsieur Montparnasse schüttelt den Kopf. Der Sohn ruinierter Holzhändler aus Livorno und der Sohn des
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