Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Flickschneiders aus Smilowitschi – das absonderlichste Freundespaar, das er je sah. Er kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der eine lacht laut, rezitiert endlos seinen Dante, nein, schmettert ihn in die Luft mit seinem rollenden, vor Lust an den Lauten berstenden Italienisch. Soutine sitzt schweigend in einer Ecke, greift sich an den Kopf, leckt sich seine Lippen und staunt über das Schauspiel.
Modi, ewig betrunken von Absinth und Fusel, ein Leben – ein Rausch. Er raucht Haschisch und Opium und behauptet, es seien die einzigen verfügbaren Mittel gegen seine Tuberkulose. Aber immer frisch gewaschen. Keinen Tag ohne den Schritt in die alte verbeulte Wanne. Sauber geht er auf die Jagd in die Cafés am Montparnasse. Er kann – alles, wirft die Sachen aus dem Handgelenk aufs Papier, rasch muss es gehen, so rasch wie das Leben, für keine Skizze braucht er mehr als ein paar Minuten. In den Cafés lauert er auf den Zufallskunden, der ihm für ein Bleistiftporträt ein Glas Gin herüberschiebt. Er bezahlt mit seinem Block. Die unanständige Leichtigkeit, mit der er ein paar Linien, Kopf, Augen, eine Nase, einen hochmütigen Mund auf das Papier wirft.
Für den bizarren Freund aus Smilowitschi ist jedes Bild eine zermürbende Qual, die meist mit der Zerstörung endet. Sauberkeit ist keine Lösung, um mit denen da draußen zu verkehren. Soutine baut inzwischen aus Körpergerüchen einen dichten Wall gegen die Welt. Er will auf die Schutzmauer nicht verzichten. Wer ihm zu nahe kommt, dreht frühzeitig ab. Der starke Geruch ist eine Waffe gegen die zudringliche Welt.
Der erfinderische Modi zeigt ihm sogar, wie man mit Läusen und Wanzen umgeht, wie man sich die lästigen Mitbewohner vom Leib hält. Er schiebt die beiden durchgelegenen Matratzen in der Cité Falguière nahe zusammen und legt um die Matratzeninsel einen Wall aus Asche an. Doch dann behauptet er, die schlauen Viecher kletterten zur Atelierdecke hoch und ließen sich von dort auf die Bewohner niederfallen, die eine Kerze neben sich und ein Buch in den Händen halten. Einfallsreiche Tiere, sie sind so viel schlauer als wir.
Soutine hört nichts mehr. Foujita, der Blindenführer, der Mitbewohner in der Cité Falguière, führt ihn ins Laënnec-Hospital. Was haben wir denn da? Viele kleine Wanzeneier. Der Arzt staunt nur und fischt ein ganzes Wanzennest aus dem Ohr des Malers hervor.
Soutine hört wieder. Und noch im Leichenwagen hört er Modiglianis Stimme. Sie ist da, an seinem linken Ohr, das am Ende seines angewinkelten Armes in seinem Handteller liegt. Soutine lauscht. Sie ist da.
Es gibt ein Insekt … das die Menschen auf ihre Kosten ernähren … es mag keinen Wein … es zieht Blut vor … fähig wäre es … durch dunkle Macht … so groß zu werden wie ein Elefant … und die Menschen zu zertreten wie Ähren … man gibt ihm den Kopf als Thron … da kommt sie schon, seine unzählbare Familie … mit der es euch freigebig beschenkt … damit eure Verzweiflung weniger bitter sei …
Was, du weißt nicht, wer Lautréamont ist? schreit es jetzt an Soutines Ohr. Ja habt ihr in eurem verfluchten Dorf nur den Talmud gelesen?
Wo war es nur, dass Modi ihm Lautréamonts bitteren Lobgesang auf die Laus mit rollendem R in die Ohren krächzte? Im Bienenstock, in der Cité Falguière? Modi redet sich in Trance und Ekstase, wenn er die Gesänge des Maldoror rezitiert, sie sind sein Evangelium, seine tägliche Frohbotschaft, seine teuflische Litanei. Nirgends geht er hin im fleckigen dunklen Cordsamtjackett ohne dieses zerschlissene kleine Buch in der Seitentasche. Er rennt umher in seinem Atelier und wirft dem Zuhörer blitzende Blicke zu, er wird selber zu Lautréamonts gefallenem Engel, zum satanischen Verführer, der Rache nimmt und Gott bestrafen will für die Erschaffung des misslungenen Menschengeschlechts. Soutine hört Modigliani noch immer die Sätze des Maldoror röcheln, husten, pfeifen, krächzen. Ein Dybbuk hat von ihm Besitz ergriffen. Seine Tuberkulose spricht aus der Sprache Lautréamonts.
O Laus mit der eingeschrumpften Pupille … solange die Menschheit durch fatale Kriege … sich die eigenen Flanken zerfleischt … solange die göttliche Gerechtigkeit … ihre Racheblitze auf diesen egoistischen Erdball schleudert … solange der Mensch seinen Schöpfer verkennt … und ihn nicht ohne Grund verspottet … wird dir die Herrschaft über das Weltall sicher sein …
Er badet in den schwarzen Fluten des Maldoror mit seinem höhnisch
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