Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
weil er weiß, dass das Modell vor seinen Augen bestürzend rasch zu altern beginnt, kaum hat er den Pinsel angerührt. Er hat Angst vor seiner eigenen Alterungsmaschine. Sein dunkles Auge sieht bereits den Verfall des Körpers in der vor ihm sitzenden Person, die panisch verschlungenen Hände, die entsetzten Greisengesichter, die sich schämen, noch immer auf der Welt zu sein.
Hast du das schon gesehen? fragt Eleni. Unter Modiglianis Porträts findet man keinen einzigen alten Menschen, nur straffe, jugendliche Göttinnen, solide runzellose Männer.
Und weißt du, was? Soutine hat Modi nie gemalt, weil er unter seiner Hand rasend schnell gealtert wäre. Modigliani wusste selber, dass er jung sterben würde, und Soutine wusste, dass es ihm nicht zustand, in dieses Gesicht den Greis hineinzulesen, den es nie geben würde. Einen also wagte er nicht zu malen, den jugendlichen italienischen Gott aus Livorno, der nicht alt werden wollte, der wusste, dass seine Tuberkulose recht behalten würde und der fortwährende Rausch. Chaim betrachtete Modi von der Seite und wusste: Ihn wird es nie als Greis geben, es war unvorstellbar, es war nicht sichtbar. Soutine war verstört – bei allen sah er lange vor der Zeit das durchfurchte Greisengesicht, nur bei Modigliani konnte er es nicht erkennen. Er sah dort nichts. Dieses Gesicht gibt es nicht in der weltweiten Galerie der Greise, die seit Urzeiten über uns wachen. Also ließ er es bleiben.
Prinz Modi! Warum war er so früh abgehauen im Jahr 1920? Soutine war nicht in Paris, er war in Vence, wo Modi ihn 1918 hingelockt hatte. Er erfuhr es dort unten, auch den Selbstmord Jeannes, die sich, im achten Monat schwanger, aus dem Fenster stürzte. Den leuchtenden Farben des Südens war plötzlich Asche beigemischt.
Er kam früh ans Ziel, mit fünfunddreißig. Kurz leben, schnell, kurz, schnell. Keine endlose Fahrt im Leichenwagen durch alle Provinzen Frankreichs. Kein Altern, keine verschlafene Reifung, nur Absinth, Äther, Haschisch. Die Tuberkulose mischt das Rauschgetränk. Er war nicht in Paris, ließ sich von Kisling alles erzählen, jedes Detail. Kein Tod hat ihn so erschüttert. Er will keinen Tropfen mehr anrühren, weil jeder ihn an Modi erinnert und an die furchtbarsten Trinkorgien, die seinem Magengeschwür je zugemutet wurden. Jahrelang wird er böse sein auf den Ewigberauschten.
Modi trank keine Milch. Alles, was greifbar war, hochprozentigen Absinth, die grüne Fee, das Thujon-Gebräu, aus Wermut, Anis, Fenchel. Dann die
mominette
, den billigen Fusel aus Kartoffelschnaps. Trank, um alles zu beschleunigen, sich selbst zu beschleunigen. Wenn er getrunken hat, wird der sanfte, charmante, kluge Prinz zur Furie, sucht Streit, schlägt um sich. Die grüne Fee schickt ihm Halluzinationen, furchtbare Delirien. Einmal erwacht er morgens, weil jemand an seinem Arm zupft. Er will sich bewegen, kann nicht. Fühlt seine Knie am Kinn, liegt eingekrümmt in einem Abfallkorb am Straßenrand, zwei Straßenfeger haben ihn lachend geweckt. Ein Gott im Abfalleimer! Zerknülltes Bündel, verkaterter Gott.
Soutine merkt sich jede Einzelheit von Kislings Bericht. Er sieht jetzt im Leichenwagen Modis Beerdigung vor sich, der ganze Zirkus Montparnasse hat sich versammelt, um Modi das letzte Geleit zu geben. Kisling verschickt Rohrpost an alle Kumpane. Versammlung am 27. Januar, 14 Uhr 30 in der Charité, wo er gestorben ist, Beisetzung auf dem Friedhof Père-Lachaise. Modis Bruder Emmanuele hatte telegrafiert:
Begrabt ihn wie einen Prinzen, es soll an nichts mangeln, bitte einen italienischen Trauerzug mit Blumen, Pferden, Tränen, Gesang.
Er zieht an der Rotonde vorbei wie vor einem Tempel, eine große Menschenmenge auf den Gehsteigen, die sich auf die Zehenspitzen erhebt, um den Wagen zu sehen und den Italiener, den alle lieben und dessen Bilder doch keiner haben will. An allen Kreuzungen stehen die Polizeibeamten stramm und grüßen militärisch. Vermutlich ein Abgeordneter, ein Senator.
Der Tod hat ihn früh aufgesucht mit seiner Spürnase. Beschnüffelt den Körper wie eine Hundeschnauze, sucht den Eingang, sucht sich ein passendes Organ für sein Werk. Herz, Lunge, Hirn, Magen, bitte sehr. Er liebt die Varianten. Einmal keucht er vor Eile, dann täuscht er Gelassenheit vor. Er spielt gern, beschleunigt, drosselt und dämpft. Er ist wählerisch und liebt die Abwechslung. Nur der Tod ist Gott. Er sucht sich einen Maler aus Livorno, wählt sich die Tuberkulose. Der Maler hilft ihm
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