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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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infizierte Milch eine Ursache war. Und wann wurde der BCG-Impfstoff erstmals angewendet? Auch das wird Sie erstaunen. Ziemlich genau ein Jahr nach Livornos Ableben!
    Der Maler starrt verdutzt auf Doktor Bog. Ableben? Und er fühlt sich heute wunderbar? Aber ja doch, solche Dinge sind hier nicht unvereinbar.
    Doktor Livorno tritt schüchtern und linkisch in das Untersuchungszimmer ein, wendet jedoch sein Gesicht ab und fragt nur kurz:
    Triple?
    Ja, French Triple. Die Kombination von einem Protonenpumpenhemmer mit zwei Antibiotika. Nichts schöner als das. Pantoprazol, Clarithromycin, Amoxicillin.
    Der Maler will diesen Wortgewittern etwas entgegnen, doch was ihm einfällt, sind nur die Namen der schrecklichen Pogrome, die die Nächte seiner Kindheit heimgesucht haben. Kischinjow, Gomel, Schitomir, Berditschew, Nowgorod, Nikolajew, Odessa. Aber er hält sich zurück und erwidert dem leicht verächtlich lächelnden Doktor Bog:
    Terra di Siena, Veronesegrün, Karmesin, Inkarnat.
    Doktor Bog entfernt sich auf Zehenspitzen, verschwindet aus dem Raum, und schon tritt milde lächelnd der einst schwarzhaarige, nun völlig ergraute, von der Milch des Alters gezeichnete Assistent des Doktor Bog auf ihn zu und zückt ein schneeweißes Blatt Papier.
    Der Maler traut seinen Augen nicht. Das Gesicht, diese Augen, die Lippen – das kann nicht wahr sein.
    Modi, du hier, was tust du in dieser Klinik?
    Doktor Livorno tut so, als würde er die Frage großzügig überhören. Der weißgekleidete Assistent mit den Zügen Modiglianis und der verblüffenden Leidenschaftslosigkeit, die nie und nimmer von dem italienischen Maler Amedeo Modigliani stammen konnte, stellt keine Fragen, legt das weiße Papier beiseite und beginnt psalmodierend und seltsam gleichgültig entrückt zu rezitieren:
    Als deine Rinder pflügten und die Eselinnen bei ihnen zur Weide gingen … Das Feuer Gottes ist vom Himmel herabgefallen und hat Schafe und Knechte verbrannt und sie verzehret …
    Der Maler rutscht wieder unruhig auf seinem weißen Laken hin und her. Sein Bauch ist bretthart. Nur der Schmerz ist nicht mehr da, der Schmerz fehlt. Nicht dass er ihn vermisst, aber ein fehlender Schmerz ist immer ungewöhnlich. Der jahrzehntelange Schmerz, die Krämpfe, das Zucken, das Brennen, Erbrechen. Das Wühlen in ihm, das Packen der Schmerzfaust, ihr langsames Drehen in seinem Innern.
    Er sieht dem fromm gewordenen Modi direkt ins Gesicht. Der nimmt einen feierlichen Ausdruck an und will wieder etwas rezitieren, doch der Maler fragt ihn rasch:
    Ist es Lautréamont, den du immer geliebt hast? Weißt du noch, die Passage mit der Laus?
    Doch sein Gegenüber überhört die zweite Hälfte auch dieser Frage und antwortet schroff:
    Konzentrieren Sie sich. Keine Ablenkung,
Jungermantschik!
    Und der matte Modi fängt wieder an zu psalmodieren, aber nicht wie damals, als er seinen Dante hervorschmetterte, sondern mit wattiger, wie von dämpfenden bromhaltigen Medikamenten belegter Stimme:
    Die Chaldäer haben drei Haufen gebildet … und haben sich über die Kamele hergemacht … und sie hinweggetrieben … die Knaben aber … haben sie mit der Schärfe des Schwerts erschlagen …
    Doktor Livornos Gesichtsausdruck nimmt einen fragenden Ausdruck an, als wolle er wissen, ob der Patient das alles wiedererkenne, ob es in ihm Echos gebe?
    Als deine Söhne und deine Töchter aßen … und Wein tranken … in dem Hause ihres erstgeborenen Bruders … siehe, da ist ein großer starker Wind … von der Wüste her eingefallen … der hat die vier Ecken am Hause ergriffen … und ist das Haus auf die jungen Leute gefallen …
    Sie müssen sich doch daran erinnern, sagt Livorno mit vorwurfsvoller Grimasse.
    Nichts, nein, nichts.
    Er lächelt jetzt diesen Pseudo-Modi nur an und fragt ihn:
    Soll ich dir das Kälbchen singen?
    Doch Doktor Livorno lässt sich nicht ablenken und psalmodiert weiter.
    Nackend bin ich aus meiner Mutter Leib gegangen … nackend werde ich wieder dahingehen … wenn er mit der Geißel eilends tötet … so lachet er der Prüfung der Unschuldigen … um die Zelte der Räuber stehet es wohl … und die frevelhaft wider Gott handeln … wohnen sicher … denen ihre Faust ihr Gott ist …
    Der Maler schließt die Augen und stellt sich schlafend. Er weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Die Operation sei gelungen oder gar nicht notwendig, hat Doktor Bog gesagt. Er hat keine Schmerzen mehr. Er wundert sich, dass alles keine Schmerzen hinterlässt. Und keine Naht.

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