Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
sehr bei der Arbeit, trinkt maßlos, schnüffelt Äther, raucht Opium. Oder er sucht sich einen aus Smilowitschi, wählt sich ein Magengeschwür als Eingangstor. Nur zu. Wir lassen uns drei Jahrzehnte Zeit. Warten noch die Besatzer ab. Bestellen inzwischen einen Leichenwagen.
Das gefälschte Staatsbegräbnis hätte Modi gefallen. Soutine wäre viel zu spät gekommen. Und der andere wird überhaupt nicht kommen zu seiner geheimen Verscharrung. Es wird kein Staatsbegräbnis werden.
Und was ist mit seiner kleinen Madonna? In der Colarossi-Akademie an der Rue de la Grande Chaumière hat er sie kennengelernt, wo sie Studentin war. Bei einem Maskenball, im Frühjahr 1917. Sie ist neunzehn. Sanftes Gesicht, breiter Mund und Nase, kleine byzantinische Ikone, zwei klare vergissmeinnichtblaue, mandelförmige Augen. Zwei Haarflechten, links und rechts, mit kupferfarbenem Einschlag, dunklen Schnecken gleich angeordnet. Bleiches, wächsernes Gesicht, das mit dem dunklen Haar kontrastiert. Entenblaues Kleid, veronesegrünes Stirnband.
Modi sieht sie geradewegs aus den Gemälden seiner Italiener steigen in das Wrack seines Lebens. Er hat seit vierhundert Jahren von ihr geträumt. Nach der Hölle mit der unberechenbaren, extravaganten Beatrice Hastings sucht er andere Frauen, ergebene, stille, sanfte Dulderinnen, die keine Szenen machen. Eine schlanke, wandelnde Statue mit einem unsagbar traurigen Blick. Sie lacht nicht, sie scheint zu träumen, ist abwesend, scheu, nicht von hier.
Sie erinnert an jenes Mädchen aus Rimbauds Kindheit. Modi hatte Chaim die Illuminationen aufgedrängt. Nimm das, lies es endlich. Lies die Kindheit, lies
Enfance
. Sie ist das Mädchen mit den Orangenlippen, das Rimbaud am Waldrand sah. Es fällt ihm jetzt im Leichenwagen wieder ein, als sein Ohr am Handteller lauscht. Jene ganze Passage. Es kreuzt die Knie in der hellen Sintflut, die aus den Wiesen strömt. Am Waldrand, ja, Traumblumen bimmeln, bersten, blenden. Und ihre Nacktheit wird umschattet, durchquert und gekleidet von Regenbögen, der Welt der Blüten, dem Meer. Ja, sie ist das Mädchen mit den Orangenlippen, das Rimbaud am Waldrand sah. Sie ist die kleine Tote hinter den Rosensträuchern.
Jeanne, die kleine Madonna, läuft ihrem Modi-Prinzen hinterher, schleppt ihn nach Hause, wenn er betrunken ist. Ihre Eltern sind entsetzt, versuchen sich zurückzuhalten, aber ihr Bruder André liegt im Norden in den Schützengräben, brüllt vor Wut, dass die zerbrechliche Schwester an diesen Frauenbetörer geraten ist. Sie verschwindet eines Tages, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, verlässt die Familie, um mit ihm zu leben. Dem Tuberkulosewrack, Rauschgiftsüchtigen, Ausländer noch dazu und entlaufener Jude aus Italien. Und seine sanfte Jeannette will nur den haben und keinen andern.
Die Familie weiß nicht, wohin sie verschwunden ist. Schon im Juli 17 wohnt sie mit ihm im L-förmigen Raum unterm Dach an der Rue de la Grande Chaumière. Ein Bett, eine Kommode, der Schlauch des Ateliers. Zbo hofft, dass Modis Leben jetzt ruhiger wird. Aber Modi kann nicht aufhören mit den Räuschen, den zerstörerischen Wutausbrüchen. Im Sommer brennen Metallblende und Teer der Schwarzpappe, im Winter fehlen die Kohlen, das eisige Reich zu beheizen. Jeanne bringt im November 18 ein Mädchen zur Welt. Giovanna. Sie will, dass er sie heirate, er hasst sie dafür, will keine Familienstricke um die freie Hand. Die Hand muss malen, verstehst du. Sie gibt alles auf, auch sich selbst, damit er bleibt. Sie sitzt Modell, wischt seine Kotze auf, verehrt ihn mit stummer Ergebenheit. Eifersüchtig beobachtet sie seine Modelle. Dann taucht auf den Bildern noch die schöne Schwedin Thora Klinckowström auf. Oder Lunia Czechowska, deren Mann Casimir er völlig ignoriert. Er liebt sie im Sommer 19, als Jeanne mit ihrem Säugling in Nizza zurückbleibt. Für Modi ist seine Beute immer allein. Sie wartet auf ihn.
Er ist ein lebender Verfall, doch der Jagdinstinkt will nicht nachlassen. Der spanischen Grippe war leichter zu entkommen. Verliert nach und nach seine Zähne, ein schwarzer Strudel zieht ihn immer tiefer hinab. Beim Malen die letzte verzweifelte Erregung, die auf das Modell überspringen will, der letzte Sprung, ein letztes Bespringen eher. Er fühlt sich nur noch am Leben, wenn er trinkt oder malt, und beides gleichzeitig. Er weiß, dass das Sterben schon begonnen hat. Aber wann? Minuten oder Jahre vorher?
Er lebt, obwohl er schon zweimal tot war. Er ist ein
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